Schmerzhafte Störung Wenn der Kiefer knackt und kracht

Schmerzen im Kiefer oder beim Kauen sind weit verbreitet. Doch nicht immer müssen Biss-Fehlstellungen korrigiert oder gar die Zähne überkront werden. Meist gilt bei der sogenannten Craniomandibulären Dysfunktion: Entspannen geht vor Abschleifen.
Nacken und Kiefer (Illustration): Die Symptome einer CMD lassen sich bei den meisten Patienten mit einfachen Mitteln behandeln

Nacken und Kiefer (Illustration): Die Symptome einer CMD lassen sich bei den meisten Patienten mit einfachen Mitteln behandeln

Foto: Corbis

"Irgendwann ging nichts mehr", sagt Petra, "mit 40 war ich ein Wrack." Ihre Leidensgeschichte: Autounfall, Tauchunfall, Fehlbiss, Mandel-Operation, Zahnlücken im Unterkiefer, Knacken in den Kiefergelenken, Schmerzen an der Wirbelsäule und in den Knien.

Weder der Orthopäde noch der Physiotherapeut habe ihr helfen können. Dass sie heute keine Beschwerden mehr hat, führt sie auf eine Diagnose zurück, die alle Probleme in drei Buchstaben zusammenfasste: CMD. So wie Petra gibt es viele Betroffene mit umfangreicher Krankenakte. Sie nennen sich selbst CMD'ler; eine Krankheit, die eigentlich nur ein Überbegriff ist, aber derzeit auch eine Modediagnose.

Die Abkürzung steht für craniomandibuläre Dysfunktion, also für eine Funktionsstörung an Schädel und Unterkiefer. Dabei geht es zunächst einmal um Schmerzen im Kiefergelenk oder in der Kaumuskulatur, um eine eingeschränkte Kieferbeweglichkeit oder Mundöffnung und um auffällige Geräusche im Kiefergelenk. Häufig werden unter die CMD auch Nacken- oder Rückenschmerzen einbezogen. Wie Petra gehen viele Patienten (und Ärzte) davon aus, dass Abweichungen von der Kiefernorm Beschwerden auch an anderen Stellen nach sich ziehen, teilweise bis hin zu den Füßen.

Schwammige Definitionen

Genau das aber sei nicht richtig, sagt Jens Türp von der Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin und Myoarthropathien an der Universität Basel: "Das ist eine eigenmächtige Erweiterung einiger Ärzte und Zahnärzte, die nicht von wissenschaftlichen Belegen gestützt ist." Zudem wird bei CMD-Patienten immer noch häufig am Zusammenbiss herumgewerkelt. Das heißt, es wird in die Zahnsubstanz eingegriffen - unwiederbringlich. Zähne werden beschliffen, überkront oder gezogen, um die sogenannte Okklusion zu verändern.

Dabei ist Zahnersatz als CMD-Therapie längst überholt. "So massive Eingriffe", sagt Alfons Hugger von der Westdeutschen Kieferklinik an der Universität Düsseldorf, "sollten wenn überhaupt erst ganz am Ende einer Behandlung stehen." Ob die Okklusion, also der Zusammenbiss, überhaupt eine Rolle bei CMD spielt, ist in der Forschung sehr umstritten. "In Deutschland geht man davon aus, dass sie immerhin als ein Faktor angesehen werden muss."

Das Problem: "Es gibt unterschiedliche Diagnosesysteme, unterschiedliche Ursachen-Konzepte und unterschiedliche Untersuchungstechniken", sagt Horst Kares, Zahnarzt aus Saarbrücken, der sich mit wissenschaftlichen Belegen zur CMD befasst. Auch Türp kritisiert seit Jahren eine Überversorgung in Diagnostik und Therapie der Funktionsstörungen des Kausystems, ebenso jedoch eine Unterversorgung, vor allem bei der Schmerzdiagnose und -therapie.

Unklare Diagnostik

Umstritten ist auch die instrumentelle Funktionsanalyse. Während bei der klinischen Funktionsanalyse der Patient ganz klassisch untersucht wird, kommen bei der instrumentellen Variante elektronische Mess-Systeme zum Einsatz. Die wissenschaftlichen Belege für Nutzen und Genauigkeit galten bislang als schwach. Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) kam 2010 zu dem Schluss , es sei unklar, ob dieses Verfahren zur Diagnostik von CMD empfehlenswert sei.

Türp und einige Fachgesellschaften halten es weiterhin für entbehrlich. Alfons Hugger ist anderer Ansicht. Er koordiniert derzeit die Erstellung einer Leitlinie für die instrumentelle zahnärztliche Funktionsanalyse . Mit genauerer Suche seien sehr wohl wissenschaftliche Belege zu finden: "Die instrumentelle Funktionsanalyse ist eine verlässliche Untersuchungstechnik. Aber man sollte sie nur einsetzen, wenn es sinnvoll ist. Nicht jeder CMD-Patient benötigt sie."

Also nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen: 80 bis 90 Prozent der CMD-Patienten könne man sehr gut mit einfachen Mitteln behandeln, sagt Hugger. Also mit einer Aufbissschiene, mit Physiotherapie oder Entspannungsübungen. Die Schiene wird in der Regel von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Ansonsten können je nach Befund mehrere hundert Euro privat zu zahlen sein.

Stress abbauen, statt Medikamente schlucken

Grundsätzlich ist CMD mit dem Blick auf die Zähne allein ohnehin kaum zu heilen. Die Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft betonte bereits 1996: "Funktionelle Störungen erfordern mehr psychologisch-ärztliche Betreuung als medizinisch-technische Behandlung." Die Diagnose erfordert also viel von dem, worauf unser Gesundheitssystem nicht ausgerichtet ist: Sprechen statt machen.

CMD: HILFE BEI KIEFERBESCHWERDEN

Wie sind die Symptome einer craniomanibulären Dysfunktion?Welche Ursachen haben die Kaubeschwerden und Kieferschmerzen?Wie behandelt man eine CMD?

Deshalb sei für Patienten vor allem Aufklärung wichtig, sagt Horst Kares. Alfons Hugger nennt es die "Eigenaktivität": Ein CMD-Patient dürfe nicht nur ein Rezept für ein Medikament oder für eine Schiene entgegennehmen. "Er muss selbst mitwirken. Er muss sein Verhalten analysieren und Gewohnheiten ändern." Wer unter Stress die Kiefermuskulatur anspanne, könne lernen, diese Situationen zu meiden oder die Anspannung abzubauen.

Hier finden Sie eine Liste von Spezialisten für Funktionsdiagnostik .

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