Desinfektionsmittel Mercurochrom Wir waren die rote Armee

Kniewunde: Desinfektion früher mit Quecksilber - heute mit Jod
Foto: CorbisMeine Kindheit war rot-orange. Das war die Standardfarbe meiner Knie. Denn damals war eine Blutgrätsche noch eine Blutgrätsche - und zwar vor allem für den Grätschenden, weil sie entweder auf Asphalt (Schulhof) oder Ascheplätzen ausgeführt wurde. Vor allem aber gab es diesen Stoff, der Verletzungen schlimmer aussehen ließ als sie waren und der Abschürfungen schnell heilen ließ: Mercurochrom. Eine rote Flüssigkeit zur Wunddesinfektion, die mit einem Plastikplättchen direkt auf die Wunde gestrichen wurde, egal, ob ich mich bei Bandenkriegen im Wald oder beim Fußballspielen verletzte.
Ich erinnere mich, wie ich mit diesem kleinen Kunststoff-Applikator meine Beine anstrich und kleine Steinchen damit aus der Wunde schnippte. Es brannte kaum - und die roten Beine trugen ich, meine Brüder und Freunde, wie Tapferkeitsauszeichnungen. Auch wenn wir natürlich manchmal weinten, wenn unsere Mütter uns den Stoff auf die Wunde schmierten. Aber das stolze Rot-Orange blieb ja zum Glück viel länger als die Schmerzen. Zerkratzt, angemalt und unbesiegbar - wir waren die rote Armee, auch wenn unsere Helden eher Rocky und Rambo waren.
Rot ist es immer noch
Damals wussten wir natürlich nicht, dass in Mercurochrom Quecksilber war, was giftig ist, nicht nur für die Keime, die davon zuverlässig und schnell abgetötet werden, sondern auch für Menschen. Ob wir uns damals eine Quecksilber-Vergiftung zugezogen haben? Irgendwann wurde das Mittel jedenfalls vom Markt genommen. Aber das war nach der Zeit, in der ich ständig Schürfwunden hatte.
Ich hätte es gar nicht mitbekommen, wenn nicht Erika, die Mutter einer Freundin, davon erzählt hätte. Sie war Sekretärin in einer Grundschule und dort zuständig für die Verarztung zerschürfter Schüler. Eine Zeitlang importierte sie den Stoff aus Italien, wo er noch im Handel war. Die Kinder wollten das rote Zeug, und Erika beteuerte, es gebe nichts Besseres zur Wundversorgung. Irgendwann war auch diese südeuropäische Quelle versiegt. Doch plötzlich, Jahre später, sehe ich wie jemand in der Apotheke ein Fläschchen mit der Aufschrift "Mercuchrom" kauft. Was war passiert?
Es stellte sich raus, dass der Hersteller eine Tinktur mit völlig anderem Inhalt hergestellt hat und ihn einfach unter fast gleichem Namen vertreibt. Immerhin die Flüssigkeit ist noch rot. Sie taugt also wahrscheinlich immer noch dazu, Kinder zu Helden zu machen - aber das ist auch alles, was gleich ist. Das neue Mercuchrom ist eine Jodlösung, wie es sie sonst auch in der Apotheke gibt, und als Wundantiseptikum durchaus wirksam.
Wahrscheinlich ist es ein guter Ansatz, Menschen nicht mehr mit Quecksilber zu belasten. Aber was für ein Etikettenschwindel! Wird man uns eines Tages rot gefärbtes Wasser als Wein verkaufen, weil die Gesundheitsbehörden entschieden haben, dass Alkohol zu schädlich ist? Ohne, dass wir davon wissen? Wenigstens müsste man doch Verbrauchern mitteilen, dass Sie etwas ganz anderes bekommen als sie denken!
Homöopathische Dosis
Erstaunlicherweise ist im Gegensatz zum Mercurochrom mit der Originalrezeptur eine homöopathische Quecksilber-Zubereitung namens "Mercurius solubilis" noch erhältlich. Sie wird Menschen empfohlen, "die überempfindlich sind und unruhig", die "impulsiv und aufbrausend wirken, manchmal auch arrogant".
Man könnte vermuten, die Homöopathen wollten damit alle Unsympathen vergiften, aber solche hehren Motive stecken dann doch nicht dahinter. Auf einer Homöopathie-Webseite heißt es: "…keine Angst, in homöopathischen Dosen ist Quecksilber ungefährlich." Ja, auch die Homöopathen wissen wohl mittlerweile, dass in ihren Mitteln durch unendliche Verdünnung einfach kein Wirkstoff enthalten und damit auch keine Wirkung zu erwarten ist, die über den Placebo-Effekt hinausgeht.
Ich habe mir derweil überlegt, ob ich mir eine mehr als homöopathische Dosis echten Mercurochroms genehmigen sollte. Im Internet fand ich einen Link: "Buy the real old Mercurochrome stuff". Aber vielleicht bewahre ich wegen der Quecksilber-Gefahr meine roten Beine doch lieber in meiner Erinnerung - ohne Holzgewehr in der Hand sähen sie angemalt bestimmt auch nicht mehr so gut aus wie damals.