

Ein rätselhafter Patient Die falsche Fährte
Als der 59-Jährige die Notaufnahme des Spitals in der schweizerischen Kleinstadt Laufenburg aufsucht, geht es ihm richtig schlecht: Er leidet unter heftigem Schwindel und muss sich seit 24 Stunden immer wieder übergeben. Allein hätte er den Weg ins Krankenhaus nicht geschafft, ein Freund begleitet ihn. Dieser übersetzt auch die Fragen des medizinischen Personals bei der Aufnahme und die Antworten des Mannes, der kein Deutsch spricht.
Der Patient berichtet, dass sich der Schwindel verschlimmere, sobald er sich aufrichtet, und abnehme, wenn er liegt. Andere Beschwerden wie Luftnot, Brustschmerzen, Herzrasen oder Durchfälle hat er nicht. Er leidet jedoch unter Bluthochdruck und musste sich wegen eines verengten Herzkranzgefäßes im Jahr 2009 einen Stent in die rechte Koronararterie legen lassen.
Wie der begleitende Übersetzer berichtet, habe sein Freund drei Medikamente – Atorvastatin zur Cholesterinsenkung, Acetylsalicylsäure zur Vorbeugung von Blutgerinnseln und Amlodipin gegen Bluthochdruck – einige Monate zuvor ohne Rücksprache mit dem Hausarzt abgesetzt. Andere Arzneien nehme er nicht.
Schwierige Suche nach der Schwindelursache
In der Notaufnahme findet eine schnelle Untersuchung statt. Der Patient ist klar und orientiert, aber durch den Schwindel, den Brechreiz und die Übelkeit stark eingeschränkt. Sein Blutdruck ist mit 165/80 mmHG (Millimeter Quecksilbersäule) zu hoch, obwohl sein Herz langsam schlägt – nur 50-mal in der Minute, im Normbereich wären 60 bis 80 Schläge. Auch die Herzaktivität im EKG zeigt eine verlangsamte und veränderte Herzfrequenz. Er hat kein Fieber, die Sauerstoffsättigung seines Blutes ist normal und auch Blutwerte, die für einen Herzinfarkt sprechen könnten, sind unauffällig.
Das Hauptsymptom ist damit der heftige Schwindel. Der kann viele unterschiedliche Ursachen haben, die sowohl harmlos als auch lebensbedrohlich sein können: Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr kann zum Beispiel erkranken, ein Schlaganfall etwa im Hirnstamm kann Schwindel verursachen ebenso wie Medikamente und Alkohol, und auch Herzrhythmusstörungen, Angsterkrankungen oder Entzündungen erzeugen mitunter Schwindel.
Weil der Patient berichtet, dass seine Beschwerden beim Aufrichten stärker werden, denken die Mediziner im Spital zunächst an einen sogenannten Lagerungsschwindel. Dieser löst zwar heftige Symptome aus, ist aber harmlos und kann durch ärztlich angeleitete Lagerungsmanöver meist gut behandelt werden. Bei der Untersuchung wird jedoch deutlich, dass der Schwindel den Mann nahezu unabhängig von der Lagerung beeinträchtigt, wie die Ärztinnen im Swiss Medical Forum über ihren Fall berichten. Auch die bei bestimmten Schwindelarten typischerweise auftretenden schnellen, rhythmischen Augenbewegungen – Nystagmus genannt – hat der Mann nicht.
Warum die körperliche Untersuchung so wichtig ist
Vor allem ein Schlaganfall als Ursache kommt nun aufgrund der Vorgeschichte des Mannes infrage: Bluthochdruck ist ebenso wie Gefäßablagerungen ein Risikofaktor dafür – beides hat der Patient. Die gegensteuernden Medikamente aber hat er einfach abgesetzt. Gleichzeitig fällt in der Notfallambulanz auch immer wieder der niedrige Puls auf, mitunter schlägt sein Herz nur 37-mal pro Minute.
Bei der Aufnahme auf die Krankenstation untersucht die diensthabende Ärztin den Patienten gründlich – von Kopf bis Fuß. Dazu zählt neben vielem anderen, die Funktion der Hirnnerven zu überprüfen, Herz, Lunge und Bauch abzuhören, die Reflexe zu testen und den Puls zu tasten.
Als sie an den Füßen den Blutfluss überprüfen will, fallen ihr zwei Pflaster auf, die auf den äußeren Knöcheln der Sprunggelenke kleben. Als sie ihren Patienten danach fragt, erzählt er seinem Dolmetscher, dass er schon länger Schmerzen in den Füßen habe. Ein Freund von ihm leide unter ähnlichen Beschwerden und habe von seinem Hausarzt wirksame Schmerzpflaster erhalten, deswegen habe er den Freund gebeten, ihm welche mitzubringen. Sechs Stunden bevor sein starker Schwindel einsetzte, habe er sich drei Pflaster auf die Füße geklebt, eines davon jedoch vor dem Spitalbesuch wieder entfernt.
Eine Vergiftung?
Die Pflaster enthalten Fentanyl, ein sehr starkes, opioidhaltiges Schmerzmittel. Die Dosis darin entspricht den Angaben der Ärztinnen zufolge zweimal 180 Milligramm Morphin pro 24 Stunden. Die Arznei unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz, auch in der Schweiz .
Der Grund: Die Arznei kann zum Herz-Kreislauf-Versagen und zum Atemstillstand führen. »Bei der Verschreibung und Anwendung des Wirkstoffes sind nach Angaben der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft strengste Kriterien anzulegen, da immer wieder über schwere Nebenwirkungen und Todesfälle in Zusammenhang mit der nicht fachgerechten Gabe von Fentanyl berichtet wird«, heißt es im Arzneimittelverzeichnis »Gelbe Liste« . »In den letzten Jahren sind Fentanylderivate verstärkt auf dem Drogenmarkt aufgetaucht. Auch die Anzahl Abhängiger dieser Substanzen ist weltweit gestiegen.«
Zu den besonders häufigen Nebenwirkungen von Fentanyl zählen: Schwindel, Übelkeit und Erbrechen. Auch ein verlangsamter Herzschlag kann die Folge sein.
Glück gehabt
Die Ärztin entfernt die Pflaster und verlegt den Patienten auf die Überwachungsstation. Wegen der bedrohlich niedrigen Herzfrequenz entscheiden die Mediziner, ihrem Patienten das Notfallmedikament Naloxon zu spritzen, das einer Opioidvergiftung entgegenwirkt. Daraufhin verschwindet das Erbrechen schnell, der Schwindel etwas langsamer. Am langsamen Herzschlag verändert sich nichts. Fentanyl kann über Stunden und Tage im Körper verbleiben, sodass die Ärztinnen und Ärzte weiterhin wachsam sind.
Am folgenden Tag erfährt das medizinische Team, dass der Mann bei einem Kardiologen in Behandlung ist. Dieser berichtet, dass bei dem Patienten eine wiederholt auftretende Verlangsamung des Herzschlags bekannt sei, diese habe dem Mann aber nie Probleme bereitet. Dass das Fentanyl die Herzrhythmusstörungen ausgelöst hat und weiterhin verursacht, ist nun deutlich unwahrscheinlicher.
Die Medizinerinnen vermuten aber, dass der Mann Glück gehabt hat: Die hohe Dosierung in den Pflastern hätte deutlich schwerwiegendere Symptome verursachen können. Als mögliche Ursache für den glimpflichen Verlauf diskutieren sie, dass die Unterhaut mit den darin enthaltenen Fettzellen und Blutgefäßen an den Knöcheln relativ dünn ist und die Aufnahme des Wirkstoffes aus dem Pflaster daher geringer als üblich ausgefallen ist. Das Beispiel ihres Patienten zeige deutlich, schreiben sie in ihrem Fallbericht, dass bei der Verschreibung von Opioiden eine ausführliche Aufklärung notwendig sei, »insbesondere über die korrekte Anwendung und die Gefahren einer Überdosierung«. Durch die Darreichungsform im Pflaster habe der Mann das Schmerzmittel weniger als Medikament wahrgenommen und gar nicht davon berichtet.