

"Unspezifische Effekte" Wie eine provokante These die Sicht aufs Impfen ändern könnte
Seit Jahrhunderten schützen sich Menschen mit Impfungen vor Krankheiten. Dennoch fürchten gerade in Industrienationen Eltern mögliche Nebenwirkungen der Impfungen - zum Teil so sehr, dass sie ihre Kinder nicht impfen lassen. Einige Impfgegner schüren durch Falschinformationen diese Ängste.
Im aktuellen Film und Buch "Eingeimpft" von David Sieveking haben diese Ängste viel Raum. Der Dokumentarfilmer geht der Frage nach, ob er seine Kinder impfen lassen sollte. Seine Frau ist klar dagegen, er selbst wird im Verlauf der Recherche immer skeptischer.
Eine Rezension des Films "Eingeimpft" finden Sie hier :
Sich mit allen Aussagen des Films zu beschäftigen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Eine These sticht jedoch hervor, die auch in der Wissenschaft diskutiert wird, in der Öffentlichkeit aber noch weitgehend unbekannt ist:
Es geht um die Forschung des dänischen Anthropologen und Medizinwissenschaftlers Peter Aaby : Er arbeitet seit vier Jahrzehnten im westafrikanischen Guinea-Bissau und berichtet von sogenannten unspezifischen Effekten von Impfstoffen - und zwar sowohl positiven als auch negativen. Impfungen hätten demnach auch andere Wirkungen als spezifisch vor einer Krankheit zu schützen.
- Einige Impfstoffe senken laut Aaby die Sterblichkeit von Kindern viel stärker, als es allein durch den Schutz vor dieser einen speziellen Krankheit möglich wäre. So sank etwa die Kindersterblichkeit laut Studien im Kongo, im Senegal und in Guinea-Bissau um gut die Hälfe nach Einführung der Masernimpfung. Ein so großer Effekt sei allein durch das Verhindern von Masernerkrankungen nicht zu erklären. Aaby hat dazu verschiedene Studien in Fachzeitschriften veröffentlicht.
- Andere Impfstoffe erhöhten dagegen die Sterblichkeit, so Aaby. Und das, obwohl sie gut vor der einen Krankheit schützen, gegen die sie sich richten. Als die Impfung gegen Keuchhusten, Diphtherie und Wundstarrkrampf (kurz: DTP) in Guinea-Bissau in den Achtzigern eingeführt wurde, stieg die Sterblichkeit unter Kindern, die diesen Impfstoff erhielten, berichtet Aaby in Fachpublikationen (unter anderem hier und hier ). Dies betraf insbesondere Mädchen.
In welche Richtungen die unspezifischen Effekte wirken, hänge von der Art der Impfstoffe ab: Sogenannte Lebendimpfstoffe hätten positive unspezifische Effekte, Totimpfstoffe negative.
Sind diese Thesen haltbar? Wie stark sind diese unspezifischen Effekte? Sollten sie unseren Blick aufs Impfen verändern? Ein Überblick.
Die Basis: Impfen ist Immuntraining...
Impfstoffe bestehen aus ganzen Krankheitserregern oder Bruchstücken, welche das Immunsystem als fremd erkennt und deshalb bekämpft.
- Lebendimpfstoffe enthalten abgeschwächte, aber noch vermehrungsfähige Erreger. Aus diesem Grund kann die Impfung Beschwerden auslösen, die der Krankheit gleichen. Sie fallen in der Regel aber viel schwächer aus. Eine Ausnahme: Die Polio-Schluckimpfung kann in sehr seltenen Fällen bleibende Lähmungen auslösen.
- In Totimpfstoffen sind dagegen keine vermehrungsfähigen Erreger enthalten. Diesen Impfstoffen müssen Wirkverstärker, sogenannte Adjuvantien, zugesetzt werden, um die gewünschte Antwort des Immunsystems zu provozieren.
In beiden Fällen setzt die Begegnung mit dem Impfstoff einen Lernprozess der Körperabwehr in Gang. Unter anderem merkt sie sich mithilfe sogenannter Gedächtniszellen, was sie gerade beseitigt hat. Trifft das Immunsystem dann irgendwann den echten Erreger, arbeitet es schneller und effizienter: Die Viren oder Bakterien können deshalb so schnell entsorgt werden, dass die Krankheit ausbleibt.
Alle Impfungen sind also im wahrsten Wortsinn Immuntraining gegen die jeweilige Krankheit.
...und das angeborene Immunsystem trainiert mit
Aber wie sollen Impfungen vor anderen Erkrankungen schützen?
Das Immunsystem besteht aus weit mehr als dieser sehr zielgerichteten Reaktion, die von spezialisierten Zellen gesteuert wird. Andere Teile der Körperabwehr, wie das sogenannte angeborene Immunsystem, entscheiden mit darüber, ob wir gesund bleiben oder erkranken. Die Forscher, die sich mit unspezifischen Effekten beschäftigen, sagen: Impfungen können auch diesen Teil des Immunsystems stärken und trainieren.
Mihai Netea forscht an der Radboud Universität Nijmegen sowie der Uni Bonn zum Immunsystem und hat sich, auch zusammen mit Peter Aaby, mit dem Thema befasst . Er sagt: "Auch Pflanzen und wirbellose Tiere, die nur über ein angeborenes Immunsystem verfügen, passen sich nach einer Infektion an und reagieren bei der nächsten besser." Dies passiere durch "sehr alte Mechanismen", wie etwa epigenetische Veränderungen, erklärt der Immunologe. Die Epigenetik beschreibt, wie das Erbgut durch Umwelteinflüsse beeinflusst wird. Dabei werden Gene nicht verändert, aber aktiviert oder gehemmt, was die Produktion von Proteinen im Körper verändert.
"Unspezifische Effekte machen einen generell resistenter gegen Infektionen - nicht nur gegen eine bestimmte, sondern gegen alle", erklärt der Forscher. "Impfungen täuschen im Prinzip sehr leichte Infektionen vor und können deshalb diese hilfreichen unspezifischen Effekte auslösen - ohne das Risiko einer echten Krankheit."
Auch der Immunologe Christian Bogdan von der Uni Erlangen, Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) meint, positive unspezifische Effekte des Impfens lassen sich aus wissenschaftlicher Sicht gut erklären.
Wie stark sind diese positiven unspezifischen Effekte?
Was bedeutet das konkret für den Einzelnen? Die kurze Antwort: Das weiß man noch nicht genau - und es kommt darauf an. Und zwar mindestens auf das Alter der Geimpften und ihre Lebensumstände sowie die jeweilige Impfung.
"Die Effekte sind offensichtlich so groß, dass sie in Ländern einen Unterschied machen, in denen viele Kinder an Infektionskrankheiten sterben", sagt Netea. Er nimmt zudem an, dass sie in den ersten Lebensjahren den größten Einfluss haben. Sobald das spezialisierte Immunsystem voll arbeitsfähig ist, spielen sie dagegen keine so große Rolle mehr.
"In Guinea-Bissau macht sich auch der spezifische Effekt einer Impfung stärker bemerkbar", gibt Christian Bogdan zu bedenken. Er erklärt das am Beispiel der Impfung gegen Rotaviren, die Magen-Darm-Erkrankungen auslösen. "Wir empfehlen die Impfung in Deutschland, weil Kleinkinder vor Krankenhausaufenthalten bewahrt werden können. Hierzulande sterben keine Kinder an Rotaviren - in Guinea-Bissau schon." Was in einem Land lediglich Krankenhausbehandlungen verhindere, rette in einem anderen Land Leben.
In Afrika käme noch dazu, dass viele Menschen dauerhaft von Würmern oder anderen Parasiten befallen sind. Auch das beeinflusst das Immunsystem und könnte vielleicht unspezifische Effekte verstärken oder hemmen.
Ob die unspezifischen Effekte von Impfungen in Ländern wie Deutschland spürbar zutage treten, ist unklar - falls überhaupt, ist ihr Einfluss höchstwahrscheinlich gering. In diese Richtung deuten auch bisherige Studien, etwa aus Dänemark oder den Niederlanden .
Allerdings wird in Industrienationen daran geforscht, wie die unspezifischen Effekte früher Impfungen möglicherweise ein Leben nachwirken. Zurzeit läuft zum Beispiel eine große Studie in Australien zur Frage, ob eine frühe BCG-Impfung (gegen Tuberkulose) das Allergierisiko senkt.
"Vielleicht hängt der Anstieg von Allergien ja damit zusammen, dass wir aufgehört haben, gegen Pocken und BCG zu impfen", vermutet Aaby. Er fragt sich sogar, ob das Einstellen der Pocken-Impfung nicht auch Schaden angerichtet haben könnte, weil nun das Immuntraining durch diese Impfung ausfalle.
Und was ist mit den negativen Effekten?
Peter Aaby spricht aber nicht nur von segensreichen Nebenwirkungen von Lebendimpfungen. Totimpfstoffe hätten negative Folgen, die sich etwa in Guinea-Bissau sogar in einer erhöhten Kindersterblichkeit äußern.
Wie lässt sich das erklären?
Hier sind die Immunologen zurückhaltender. "Wir haben dazu keine Forschungsergebnisse und können nur mutmaßen", sagt Mihai Neta. "Es könnte an den Adjuvantien liegen." Zu diesen zählt etwa Aluminiumhydroxid. Es kann zum Beispiel in seltenen Fällen eine sogenannte Myositis, eine Muskelentzündung, auslösen.
Christian Bogdan sagt, man müsse die Grenzen von Aabys Studien bedenken und die Daten entsprechend vorsichtig einordnen. Eine von der WHO in Auftrag gegebene Übersichtsarbeit kam zum Schluss, dass die Arbeiten keine Änderung des aktuellen Impfplans nötig machen. Aber die Wissenschaftler mahnten weitere Forschung zu dem Thema an.
Immunologisch lasse sich der negative Effekt schwer erklären, sagt Bogdan. "Möglicherweise fällt bei den Totimpfstoffen nur der positive Zusatzeffekt weg, den die Lebendimpfstoffe bieten", mutmaßt er. Der Wissenschaftler will das Ergebnis aber keineswegs abtun. Denn gerade aus solchen scheinbar unerklärlichen Phänomenen entwickle sich oft neue Forschung - und am Ende ein besseres Verständnis und bessere Therapiemöglichkeiten.
Aaby spricht ein Dilemma der Forschung an: Hochwertigere Studien sind schlicht nicht machbar. Denn sobald ein Impfstoff zugelassen ist, ist es aus ethischen Gründen unmöglich, ihn in weiteren Studien mit Placebo-Gruppen zu testen. Dafür müsste man Kindern die Impfung bewusst vorenthalten und nur ein wirkstofffreies Placebo geben. Entsprechende Studien haben Aaby und sein Team deshalb mit dem BCG-Impfstoff durchgeführt, der in reichen Ländern nicht mehr im Impfplan steht, aber in Entwicklungsländern als erste Impfung verabreicht wird. Auch haben sie zum Beispiel eine Masern-Impfung zu einem früheren Zeitpunkt getestet oder in Zeiten mit Lieferengpässen geimpfte und ungeimpfte Kinder begleitet. (Hier findet sich die wissenschaftliche Publikationsliste des "Bandim Health Project" in Guinea-Bissau.)
Wie lassen sich mögliche unspezifische Effekte der bereits verbreiteten Impfstoffe dann besser erforschen? Bogdan hält es für sinnvoll, sie mithilfe von kontrollierten Experimenten zunächst in Mäusen genauer zu ergründen. Ein großer Teil der grundlegenden immunologischen Erkenntnisse der vergangenen 30 Jahre beruht auf Maus-Experimenten.
Muss sich jetzt etwas ändern?
Aaby selbst betont, dass er kein Impfgegner ist. "Ich will aber, dass man die aktuellen Impfschemata überdenkt. Meine Daten deuten darauf hin, dass sich die negativen Effekte von Totimpfstoffen abmildern oder aufheben lassen, wenn gleichzeitig oder kurz darauf ein Lebendimpfstoff verabreicht wird." Auch wünscht er sich generell mehr Lebend- und weniger Totimpfstoffe.
Stiko-Mitglied Bogdan ist eher skeptisch. "Bevor wir Impfpläne ändern, brauchen wir gute Studien, die zeigen, dass Impfen zu anderen Zeitpunkten genauso gut beziehungsweise besser ist." Die Daten von Aaby reichen aus seiner Sicht nicht aus, um Impfpläne in Deutschland umzuwerfen.
"Plädiert er für mehr Lebendimpfungen? "Das kommt darauf an, was man will", sagt Bogdan. Früher hatten wir zum Beispiel eine Keuchhusten-Ganzkeimtotimpfung. "Die bot hervorragenden Schutz, aber etwa 30 Prozent der geimpften Kinder hatten Fieber. Das gefiel den Eltern nicht." Nun gebe es seit vielen Jahren eine sogenannte Subkomponenten-Totimpfung, die kein Fieber auslöse, aber für einen viel kürzeren Zeitraum Schutz biete." Das Beispiel zeige: Schon zwischen verschiedenen Totimpfungen müsse man im Detail abwägen. Die Grenze einfach zwischen Lebend- und Totimpfung zu ziehen, erscheint Bogdan deshalb zu simpel.
Dass wir trotz der langen Anwendung noch nicht jedes Detail über Impfungen kennen, mag Eltern verunsichern, die sich um die Gesundheit ihre Kinder sorgen. Für sie hat Immunologe Netea eine Botschaft: "Früher sind viele Kinder an Infektionskrankheiten gestorben, die heute durch Impfungen verhindert werden. Wir haben großes Glück, in dieser Zeit zu leben."
Denn klar ist: Impfungen bewahren Menschen vor schweren Krankheiten und damit auch vor lebenslangen Folgeschäden oder gar dem Tod. Bei den Pocken ist es sogar gelungen, eine verheerende Krankheit auszurotten: Wer heute geboren wird, ist vor den Pocken deshalb ganz ohne Impfung geschützt: Die Viren gibt es (abgesehen von wenigen Proben in Laboren) nicht mehr. Zu Recht werden Impfungen deshalb zu den größten medizinischen Errungenschaften der Geschichte gezählt.
Zusammengefasst: Studien deuten darauf hin, dass Impfungen neben dem spezifischen Schutz vor der jeweiligen Krankheit auch unspezifisch auf das Immunsystem wirken. Dies hat in Ländern, in denen viele Kinder an Infektionskrankheiten sterben, einen größeren Einfluss als in Industrienationen wie Deutschland. Einige Forscher plädieren wegen dieser Effekte dafür, dass wieder mehr Lebendimpfungen verabreicht und die Zeitpläne fürs Impfen verändert werden sollten - andere halten das aufgrund der aktuellen Datenlage nicht für eine zwingende Schlussfolgerung.
Anmerkung: Das Zitat von Christian Bogdan zur Keuchhusten-Impfung wurde nachträglich geändert.