

Mythos oder Medizin Hilft warme Milch beim Einschlafen?
Nachts, wenn man nicht einschlafen kann, bringt der Blick auf die Uhr das Herz zum Hämmern. Die Gedanken kreisen panisch um das Meeting vom nächsten Tag, ständig wird gerechnet: Um sechs Uhr aufstehen minus zwei Uhr auf dem Wecker - also nur noch vier Stunden Schlaf!
Spätestens in diesem Moment ist die Zeit gekommen für ein altes Hausmittel, das dem Körper Wärme, Geborgenheit und schließlich auch den Schlaf zurückgeben soll: die heiße Milch. Dass das Nuckeln von Milch entspannt, lernen wir schon früh im Leben. Hat ein Baby getrunken, schläft es ruhiger. Wie aber verhält es sich, wenn die Milch nicht aus der Brust kommt, sondern aus dem Tetrapak? Was, wenn nicht die Wärme der Mutter das Getränk erhitzt hat, sondern eine schnöde Mikrowelle?
Mit Tryptophan in den Schlaf
Um diese Fragen zu beantworten, machten sich Forscher in der Vergangenheit auf die Suche nach Einschlafhilfen unter den Inhaltsstoffen der Milch. Und tatsächlich, sie wurden fündig: Milch enthält relativ große Mengen Tryptophan. Hinter der Bezeichnung verbirgt sich eine Aminosäure, also ein Eiweißbaustein, den der Körper nicht selbst herstellen kann. Damit wir überleben können, müssen wir ihn wie Vitamine über die Ernährung zu uns nehmen.
Im Gehirn angekommen, spielt Tryptophan eine wichtige Rolle beim Stellen unserer inneren Uhr. Ist es hell, bildet der Körper aus der Aminosäure das Glückshormon Serotonin. Es trägt dazu bei, dass wir uns wach und fit fühlen. Wird es hingegen dunkel, plündert der Körper die Serotonin-Vorräte wieder, um daraus Melatonin zu bilden: ein Schlafhormon, das den Körper zur Ruhe bringt.
Die Idee, dass Milch - und dabei insbesondere Tryptophan - beim Einschlafen hilft (und vielleicht auch noch glücklich macht), ist also durchaus plausibel. Viele Amerikaner erklären sich mit dem Mechanismus ihre Müdigkeit nach dem Thanksgiving-Braten, da Truthahn-Fleisch ebenfalls viel Tryptophan enthält.
Doch die Sache hat einen Haken, auch bekannt als Tryptophan-Paradox: Nehmen wir wir große Mengen des Stoffs auf, bedeutet das noch lange nicht, dass auch viel Tryptophan im Gehirn ankommt.
25 Gläser Milch - na dann, gute Nacht!
Schuld daran ist die Blut-Hirn-Schranke, die wie ein pingeliger Türsteher einer Vielzahl von Stoffen den Einlass in unser Denkzentrum verwehrt. Tryptophan darf zwar eigentlich passieren. Dafür benötigt es jedoch einen Transporter, an den andere Aminosäuren aus Milch und Truthahn deutlich stärker binden. Während sie längst das Gehirn erreicht haben, zirkuliert das Tryptophan noch immer Runde um Runde durch den Rest des Körpers.
Das Problem ließe sich mit der gleichzeitigen Aufnahme von Kohlenhydraten lösen, etwa mit Kartoffeln zum Truthahn und süßem Kakaopulver in der Milch (die Kariesgefahr mal außer Acht gelassen). Durch sie schüttet der Körper Insulin aus, das wiederum die Aufnahme aller Aminosäuren ins Gehirn hemmt - bis auf, Sie ahnen es, Tryptophan.
Viel erhoffen sollte man sich allerdings auch dann nicht. Denn es gibt noch ein zweites Problem: Ein Glas Milch enthält rund 40 Milligramm der Aminosäure. In Studien beobachteten Forscher jedoch erst ab rund 1000 Milligramm Tryptophan Effekte, die Teilnehmer schliefen besser ein und durch. Das entspricht der Menge von rund 25 Gläsern Milch. Wer sie trinkt, ist wohl aus anderen Gründen schlaflos.
Schlaf braucht Rhythmus, keine Medikamente
Dass so viele auf die Milch schwören, ist trotzdem plausibel: "Was wirklich beim Trinken von Milch hilft, ist der psychologische Effekt", sagt Markus Specht vom Interdisziplinären Zentrum für Schlafmedizin und Heimbeatmung in Hofheim. "Es ist das Gefühl, dass die Milch einen runterfährt." Aus Sicht des Schlafexperten lassen sich Probleme beim Ein- und Durchschlafen auch grundsätzlich am besten mit einer Verhaltenstherapie lösen und nicht mit Schlafmitteln.
"Das Wichtigste für guten Schlaf ist Regelmäßigkeit", sagt er. Wer Probleme beim Einschlafen habe, sollte morgens immer um dieselbe Uhrzeit aufstehen, auch samstags und sonntags. "Der Schlaf kapiert nicht, wann Wochenende ist", sagt Specht. Selbst wer schlecht geschlafen habe, sollte den Tag durchhalten. "Das erhöht dann den Schlafdruck für die Nacht", sagt er.
Viele machen zudem den Fehler, dass sie sich zu früh hinlegen. "Schläfrig ist nicht gleich müde, erschöpft oder ermattet", sagt er. "Man sollte erst ins Bett gehen, wenn man sich schläfrig fühlt, zum Beispiel gähnt, ein bisschen fröstelt, rote Augen bekommt und das Gefühl hat, dass man sofort einnickt, wenn man sich hinlegt." Wer abends immer eine Stunde im Bett wachliegt, sollte auch einfach diese Stunde später ins Bett gehen.
"Viele haben verlernt, richtig zu schlafen, weil sie verlernt haben, auf ihren Körper zu hören", sagt Specht. Mit seinen Patienten macht er sich häufig daran, erst einmal herauszufinden, was für ein Schlaftyp sie sind.
Fazit: Wer mit Milch besser schläft, kann es sich schmecken lassen. Ein besonderes Schlafmittel enthält die Milch aber nicht, zumindest nicht in ausreichenden Mengen. Stattdessen lässt uns einfach das Gefühl, dass die Milch guttut, besser schlummern.