EEG-Fehldiagnosen Nicht jeder Anfall ist eine Epilepsie

Elektroden zur Messung von Hirnströmen: EEGs werden oft fehlinterpretiert
Foto: CorbisMichaela Jahn* hat vor drei Wochen ihr Abitur bestanden und ist seitdem im Ausnahmezustand: Sechs Tage die Woche jobbt sie jeweils 12 Stunden, abends feiert sie stundenlang mit Freunden - inzwischen zeichnen sich dunkle Ringe unter ihren Augen ab.
Schlaftrunken schleicht sie in Richtung Bad. Kurze Zeit später hört ihre Mutter Poltergeräusche von dort. Erschrocken läuft sie hin und findet ihre Tochter auf dem Boden. Die Arme seltsam gestreckt, die Augen aufgerissen und Speichel vor dem Mund. Michaelas Beine zucken rhythmisch auf und ab. Ihre Mutter schreit sie an, doch es kommt keine Reaktion. Etwa zwei Minuten lang ist die junge Frau völlig weg. Dann lässt das Zucken nach und ihr Körper entspannt sich allmählich, Michaela ist völlig abgekämpft.
Vermutlich ein epileptischer Anfall, meint der Notarzt - ausgelöst durch starken Schlafmangel und dem Alkoholentzug nach dem Genuss von ungewohnt viel Alkohol am Abend zuvor. Wahrscheinlich hat der Notarzt mit seinem Verdacht recht. Aber leidet Michaela deshalb unter Epilepsie und muss sie mit weiteren Anfällen rechnen?
Bei solchen Verdachtsfällen führen Ärzte zunächst ein EEG durch. Die Elektroenzephalographie misst Hirnströme und zeichnet sie grafisch auf. Häufig schicken sie die Patienten noch zur Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT). "Sind krankhafte Veränderungen im EEG und im MRT erkennbar, ist das Rückfallrisiko erhöht", sagt Soheyl Noachtar, Leiter des Epilepsie-Zentrums des Klinikums Großhadern der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.
Falschdiagnose durch fehlerhafte Interpretation des EEGs
Doch bei etwa 5 bis 25 Prozent der Patienten mit Anfällen oder Bewusstseinsstörungen wird fälschlicherweise eine Epilepsie diagnostiziert. Auf diesen Missstand machte die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN) vor kurzem aufmerksam. "Dabei liegen diesen Anfällen ganz andere Ursachen wie Herzrhythmusstörungen oder psychische Erkrankungen zugrunde", sagt Noachtar.
Wie kommt es zu den Fehldiagnosen? Laut DGKN werden häufig die EEG falsch interpretiert. Die Methode ist für eine Epilepsie-Diagnose sehr wichtig - doch es ist nicht so einfach, die Hirnströme richtig zu lesen. "Durch die rasante Entwicklung neuer Methoden wurde die EEG über längere Zeit vernachlässigt", sagt Noachtar. Ärzte brauchen viel Training bei der Auswertung der EEG. Wer aber wenig Erfahrung darin hat, könne verschiedene Muster nicht wirklich voneinander unterscheiden und käme dann gegebenenfalls zu einer Fehldiagnose, so Noachtar. Zudem sind manchmal mehrere EEG nötig, um krankhafte Veränderungen aufzuzeichnen, die für eine Diagnose relevant sind.
Für die Betroffenen kann eine Fehldiagnose schwere Folgen haben: Patienten bekommen mitunter Medikamente verschrieben, die nicht helfen und gravierende Nebenwirkungen haben können.
Statistisch gesehen erleiden etwa fünf Prozent der Bevölkerung irgendwann in ihrem Leben einen epileptischen Anfall - aber nur 0,5 bis 1 Prozent leiden an Epilepsie. Eine vorübergehende anfallsartige Funktionsstörung von Nervenzellen im Hirn löst einen Anfall aus, der zumeist nur 20 bis 40 Sekunden andauert. Epileptische Anfälle können ganz unterschiedlich aussehen. Manchmal äußern sie sich nur als leichtes Muskelzucken, Kribbeln auf einer Körperseite, die Wahrnehmung eines seltsamen Geruchs, ein Déjà-vu-Erlebnis oder kurze Bewusstseinspausen.
"Kaum jemand denkt hierbei an einen epileptischen Anfall", sagt der Münchner Mediziner. Die heftigeren Anfälle dauern meist etwa zwei bis drei Minuten und gehen häufig mit Zuckungen und Krämpfen sowie Bewusstseinsverlust einher. In extremen Fällen dauern Anfälle länger.
Konkrete Ursachen werden nicht immer entdeckt
Bei einer ganzen Reihe von Hirnerkrankungen treten epileptische Anfälle spontan auf, etwa bei Gehirntumoren, Gefäßmissbildungen, Stoffwechselstörungen, nach Durchblutungsstörungen oder Entzündungen im Gehirn, Sauerstoffmangel während der Geburt oder Hirnverletzungen durch Unfälle. Zugleich können dies auch die Ursachen einer Epilepsie sein. Allerdings findet man so konkrete Ursachen nur in 30 bis 40 Prozent aller Fälle.
Manche Menschen haben auch anlagebedingt eine erhöhte Neigung zu epileptischen Anfällen. "Schlafmangel, Alkoholentzug, Fieber oder Flimmerlicht lösen bei ihnen schneller einen epileptischen Anfall aus, als bei Personen ohne diese Anlage", erklärt der Neurologe Walter Paulus. "Doch können sie auch, ohne dass es sich um Epilepsie handelt, zu einem epileptischen Anfall führen", so der Direktor der Klinischen Neurophysiologie der Universitätsklinik Göttingen. Menschen, die epileptische Anfälle haben, ohne an Epilepsie zu leiden, sind vergleichsweise leicht zu behandeln: Laut Paulus müssen sie lediglich den jeweiligen Auslöser vermeiden.
Es gibt aber auch Vorfälle, die als epileptischer Anfall fehlgedeutet werden können: "Ohnmachten etwa infolge von Herzrhythmusstörungen", so Paulus. Das gelte auch für Stoffwechselstörungen wie Unterzuckerungen, wobei diese jedoch auch mal einen epileptischen Anfall verursachen könnten. Narkolepsie mit extremer Tagesschläfrigkeit und Einschlafattacken sowie psychogene Anfälle, die insbesondere bei jungen Menschen in psychisch belastenden Situationen vorkommen, sind dagegen keine epileptischen Anfälle.
Eine genaue Untersuchung und Diagnosestellung beim ersten Anfall sei daher sehr wichtig, sagt Paulus. "Ganz wichtig sind hierbei auch die Beobachtungen von Personen, die den Anfall miterlebt haben."