Medikamententests Heimkinder waren Versuchskaninchen

Zwischen den Fünfziger- und Siebzigerjahren haben Kinder in deutschen Heimen Medikamente zu Versuchszwecken bekommen. Das hat eine Pharmakologin aufgedeckt. Sie berichtet unter anderem von einer Versuchsreihe in Essen.
Franz-Sales-Haus in Essen (Nordrhein-Westfalen)

Franz-Sales-Haus in Essen (Nordrhein-Westfalen)

Foto: Wolfram Kastl/ dpa

An Essener Heimkindern sollen nach Recherchen von Experten Ende der Fünfzigerjahre Medikamente getestet worden sein. Das berichten das ARD-Magazin "Fakt" und der WDR. Demnach hatten 28 Kinder im katholischen Franz-Sales-Haus das beruhigende Neuroleptikum Decentan bekommen. Es wird typischerweise bei Psychosen oder Schizophrenie eingesetzt. Als Folgen vermutlich zu hoher Dosierungen wurden unter anderem Schrei- und Blickkrämpfe oder auch psychische Veränderungen bei den Kindern beobachtet.

Die Ergebnisse gehen auf Recherchen im Archiv des Pharmaunternehmens Merck zurück. Ein Sprecher des Konzerns bestätigte auf Anfrage, dass es entsprechende Unterlagen im Archiv gebe. Nach seinen Angaben bestünden aber keine Hinweise, dass die Tests im Auftrag des Unternehmens stattgefunden hätten.

"Frage der Wiedergutmachung stellt sich nicht"

Merck habe unterschiedlichsten Einrichtungen die Testung des Arzneimittels ermöglicht. Die Verantwortung liege bei dem Arzt, der das Medikament verabreicht habe. "Nach unserer Kenntnis hat das Unternehmen nicht rechtswidrig gehandelt. Daher stellt sich die Frage nach Wiedergutmachung nicht", stellte der Konzern fest. Merck unterstütze die Aufarbeitung der Fälle.

Das Essener Heim kündigte an, Kontakt zu den Betroffenen aufzunehmen. Bei der Aufarbeitung im Jahr 2012 von historischen Missbrauchsfällen in dem Heim sei die Medikamentenvergabe ein Thema gewesen, sagte eine Sprecherin. Externe Experten hätten aber keine Hinweise auf Medikamententests gefunden.

Die Pharmazeutin Sylvia Wagner, die an der Universität Düsseldorf forscht, hat die Hinweise im Merck-Archiv entdeckt. Sie beschäftigt sich schon länger mit Medikamententests in westdeutschen Kinderheimen und hatte bereits über Tests in anderen Heimen berichtet.

Hinweise auf etwa 50 Versuchsreihen

Durch ihre Arbeit in Archiven und die Auswertung historischer Fachzeitschriften hat sie Belege für bundesweit etwa 50 Versuchsreihen gefunden. Demnach wurden zwischen 1950 und 1975 Impfstoffe, Psychopharmaka und Libido hemmende Präparate an Kindern getestet. Heimkinder waren bis in die Siebzigerjahre weitgehend rechtlos.

Die Pharmazeutin stieß auch auf eine Versuchsreihe in der Jugendpsychiatrie Viersen-Süchteln am Niederrhein. Dort seien 30 Kinder im Alter zwischen 12 und 13 Jahren mit dem Neuroleptikon Dipiperon behandelt worden, in Erwartung, dass sich "kindliche Verhaltensstörungen" besserten. Der Landschaftsverband Rheinland teilte mit, es habe früher in Einrichtungen immer wieder "Medikamentengaben" gegeben, aber von Medikamententests sei nichts bekannt.

Die nordrhein-westfälische Landesregierung kündigte eine Prüfung und Aufarbeitung der Studie an. "Unerlaubte Medikamententestes darf es nicht geben - damals wie heute nicht", sagte das Ministerium dem WDR.

Zuvor hatte schon die Landesregierung in Schleswig-Holstein die Aufarbeitung von zwei Fällen in Schleswig-Holstein angekündigt. In der Schleswiger Jugendpsychiatrie des damaligen Landeskrankenhauses soll ein mittlerweile toter Arzt zwei Medikamente an insgesamt 95 Kindern und Jugendlichen erprobt haben. Die Landesregierung stellte eine Entschädigung in Aussicht.

wbr/dpa
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