Risiko Früherkennung US-Ärzte fordern weniger Krebsdiagnosen

Früherkennung von Krebs rettet Leben - führt aber auch zu zahlreichen unnötigen Therapien. Renommierte US-Ärzte fordern jetzt ein radikales Umdenken: Es müsse eine neue Einstufung geben, was Krebs ist und was nicht. Aber die Medizin gerät hier an ihre Grenzen.
Radiologin bewertet Mammografie-Bilder: Eine von zehn Frauen mit verdächtigem Befund ist an Brustkrebs erkrankt

Radiologin bewertet Mammografie-Bilder: Eine von zehn Frauen mit verdächtigem Befund ist an Brustkrebs erkrankt

Foto: JEAN-PAUL PELISSIER/ REUTERS

Das Wort Krebs verbreitet Schrecken. Es macht Angst vor Krankheit, vor Schmerz, vor dem Sterben. Doch Krebs ist nicht gleich Krebs und längst nicht jeder Tumor endet tödlich: Zahlreiche Frauen sterben nicht an, sondern mit ihrem Brustkrebs. Viele Männer haben zwar eine bösartige Geschwulst in der Prostata, aber die wächst so langsam, dass sie das Leben nicht verkürzt.

Seitdem es Früherkennungsprogramme für Brust-, Darm-, Prostata-, Haut- und Gebärmutterhalskrebs gibt, können Menschenleben durch eine frühere Diagnose gerettet werden. Gleichzeitig fallen bei den immer besseren und häufigeren Reihenuntersuchungen aber auch Veränderungen auf, die niemals oder vielleicht erst nach vielen Jahren krank machen würden. Diese Überdiagnosen belasten die Betroffenen körperlich und seelisch. Sie führen zu unnötigen Untersuchungen, Operationen, Bestrahlungen oder Chemotherapien.

Ein Team von hochrangigen Ärzten des US-National Cancer Institute will dem nicht weiter zusehen. In der Fachzeitschrift "Jama"  fordern Laura Esserman, Ian Thompson und Brian Reid ein radikales Umdenken beim Thema Krebs: "Die Bezeichnung 'Krebs' sollte nur für Veränderungen verwendet werden, die unbehandelt sehr wahrscheinlich zum Tod führen", schreiben die Autoren in "Jama". Vorstufen von Krebs und ungefährliche Tumoren hingegen sollten neu klassifiziert und beschrieben werden.

Neue Namen für ungefährliche Vorstufen

In fünf Punkten führen die Mediziner auf, wohin sich die Krebsforschung und -therapie entwickeln müsse, damit Patienten in Zukunft davon profitieren könnten.

  1. Ärzte und Patienten müssten besser verstehen, dass Überdiagnosen häufig sind und mit Screening-Programmen weiter zunehmen werden.
  2. Die Bezeichnung "Krebs" sollte vorsichtiger verwendet und Vorstufen neu eingeordnet werden. Dafür müssten neue Methoden entwickelt werden, die aggressive von ungefährlichen Tumoren auf molekularbiologischer Ebene unterscheiden.
  3. Ein neues Register für potentiell weniger gefährliche Krebserkrankungen müsse geschaffen werden, um Informationen über deren Verlauf zu sammeln und auszuwerten.
  4. Die Zahl der Überdiagnosen müsse durch gezieltes Screening etwa von Hochrisikogruppen und seltenere Reihenuntersuchungen reduziert werden.
  5. Es müsse ein besseres Verständnis für die Entstehung von Tumoren geschaffen werden, um die Vorbeugung zu verbessern und Alternativen zur chirurgischen Therapie entwickeln zu können.

Die Mediziner greifen mit ihren strittigen Thesen ein seit Jahren schwelendes Thema auf. Immer wieder weisen Forscher darauf hin, dass etwa die Bestimmung des PSA-Wertes als Marker für Prostatakrebs zu vielen unnötigen Therapien führt, ebenso wie das Brustkrebsscreening. Von zehn Frauen, die einen verdächtigen Befund in der Mammografie haben, ist nur eine tatsächlich an Brustkrebs erkrankt, zeigen die Statistiken.

"Die neuen CT-Screenings der Lunge liefern bei bis zum jedem Vierten auffällige Befunde", sagt Rudolf Kaaks, Leiter der Epidemiologie am Deutschen Krebsforschungszentrum, zu SPIEGEL ONLINE. "Die optimale Balance zwischen Leben retten durch Früherkennung und falschen Diagnosen haben wir noch nicht gefunden." Bei der Bevölkerung kommt dieses Wissen allerdings kaum an: Die Deutschen überschätzen den Nutzen von Früherkennungsprogrammen regelmäßig. Das Buch "Wo ist der Beweis?" - Plädoyer für eine evidenzbasierte Medizin  liefert zu diesem Thema eine umfassende kritische Bewertung (im Kapitel 4  geht es vor allem um Vor- und Nachteile von Früherkennungsuntersuchungen).

Welcher Tumor entartet, welcher schlummert?

Das Problem dabei ist: Aus Unsicherheit und Angst entscheiden sich viele Patienten, Auffälligkeiten weiter untersuchen und entfernen zu lassen - mit zahlreichen Risiken. Doch Krebserkrankungen und ihre Vorstufen sind äußerst vielschichtig. Sie hängen von individuellen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Ernährung und Vererbung ab. Gleichzeitig folgen die Zellen ihrer eigenen Biologie, die Ärzte längst nicht vollständig verstanden haben. Ob ein kleiner Tumor in der Schilddrüse aggressiv wachsen oder nie Probleme verursachen wird, können Mediziner anhand von Bildern und Laboruntersuchungen noch nicht sicher voraussagen.

Larry Norton, Direktor des Evelyn Lauder Breast Center in New York, hält die Idee einer Umbenennung daher für einen Fehlschuss. "Ich wünschte, wir wüssten, (...) welche Vorstufen in einen aggressiven Tumor übergehen und welche nicht", zitiert die "New York Times" den Brustkrebsspezialisten. "Aber Sie können nicht Jahrhunderte alte Literatur umschreiben, weil Sie plötzlich die Terminologie ändern wollen."

Die Autoren des Appells fordern außerdem, in der Kommunikation mit den Patienten deutlich vorsichtiger zu werden. "Diese Botschaft ist sehr wichtig", findet Kaaks. Wer seine Patienten richtig aufkläre, könne vermutlich einige der reflexhaften Entscheidungen für einen Eingriff nach der Diagnose Krebs vermeiden. "Der Aufruf der US-Ärzte ist mutig und sollte uns auch hier zum Nachdenken anregen", so Kaaks.

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