Ärzte wettern gegen EU-Sparpolitik Geld weg, Krankheit da

Die Medikamente sind zu teuer, der Arzt zu weit weg: Viele Europäer können sich in der Finanzkrise ihre Gesundheit nicht mehr leisten. Mit drastischen Worten machen Mediziner auf manchmal tödliche Folgen aufmerksam und fordern politische Konsequenzen.
Krankenhaus in Barcelona: Weniger Geld für Arztbesuche und Medikamente

Krankenhaus in Barcelona: Weniger Geld für Arztbesuche und Medikamente

Foto: Manu Fernandez/ AP/dpa

Die Finanzkrise in Europa tötet Menschen. Das ist die Botschaft einer aktuellen Analyse von Gesundheitsexperten, die die Auswirkungen der drastischen Sparpolitik in einigen Ländern der Europäischen Union untersucht haben. Vor allem in Griechenland, Spanien und Portugal geht es den Menschen der Studie zufolge schlecht: Kranke müssen pro Arztbesuch plötzlich mehr zahlen, sie bekommen weniger finanzielle Unterstützung für Medikamente, Krankenhäuser schließen und immer mehr Menschen leiden unter Depressionen. Andere Staaten hingegen haben ihre Einwohner offenbar vor einer Verschlechterung der Gesundheitsversorgung bewahren können.

Die Autoren des Gutachtens, das jetzt in einem Dossier des renommierten Medizinjournals "The Lancet"  erschienen ist, erheben schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen: "Die wichtigste Botschaft unserer Untersuchung ist, dass die Regierungen in Europa und die Europäische Kommission die Auswirkungen auf die Gesundheit nicht berücksichtigt haben", sagte der Mediziner Martin McKee, einer der Hauptautoren, in einer Pressekonferenz. Das von Politikern vorgeschobene Argument, die erhobenen Daten seien unzureichend, erinnere ihn "schon fast an die Tabakindustrie."

Die schwache Stimme der Gesundheit

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Krankes Europa: Zusammenhang zwischen Politik und Gesundheit

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Im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE stellt McKee klar, dass er die Europäische Kommission nicht mit der Tabakindustrie gleichsetzen will. Dennoch fordert der Professor für Public Health an der London School of Hygiene and Tropical Medicine, dass Europa die Folgen der Finanzkrise für die öffentliche Gesundheit beachten solle: "Die Stimme der Gesundheit ist wesentlich schwächer als die aus der Finanzwelt", sagt McKee. "In einigen Ländern, besonders in Griechenland, haben wir unverblümtes Leugnen beobachten können."

Vorwürfe, die sich die Beschuldigten natürlich nicht ohne weiteres gefallen lassen: Eine Reihe von ihnen habe bemängelt, erzählt McKee, dass die verfügbaren Daten noch nicht belastbar genug seien. Zudem gebe es keine Belege, dass die Finanzkrise ursächlich für die Gesundheitsfolgen sei. "Das mag für den Einzelfall stimmen, doch das Gesamtbild zeigt klar, dass sich die Sparmaßnahmen auf die Gesundheit auswirken", meint McKee.

Länder wie Griechenland, Dänemark, Portugal und Lettland beispielsweise haben den Hebel vor allem bei Verhandlungen mit der Pharmaindustrie und bei den Krankenhäusern angesetzt. Zusätzlich wurden etwa in Zypern, Griechenland, Portugal und Irland die Gehälter von Beschäftigten im medizinischen Sektor reduziert. Häufig wurde die Bevölkerung stärker an direkten Gesundheitskosten etwa beim Arztbesuch oder in der Nothilfe beteiligt.

Das internationale Forscherteam bezeichnet Europa als "natürliches Labor für Gesundheit und Gesundheitspolitik". Aus den Konsequenzen der unterschiedlichen Maßnahmen der EU-Länder wollen die Wissenschaftler Lehren ziehen, um für künftige Krisen besser gewappnet zu sein. Deshalb gelte es, sie genau zu analysieren, schreiben die Forscher.

"Wir wollen keine Heftpflaster anbieten"

"Wir stehen in der Tradition von Rudolf Virchow, der im neunzehnten Jahrhundert nach den zugrundeliegenden Ursachen gesucht hat, als es darum ging, Krankheitserreger zu bekämpfen", so McKee. "Wir wollen keine Heftpflaster anbieten, wir wollen uns um die Ursachen kümmern."

Dennoch sind einige Thesen der Mediziner steil - und umstritten: So wird beispielsweise Island als leuchtendes Beispiel genannt, weil sich die wirtschaftlichen Entscheidungen des Landes im Rahmen der Bankenkrise nicht negativ auf die Gesundheit der Menschen ausgewirkt habe. Island hatte Banken, die 2008 überschuldet vor dem Konkurs standen, nicht gerettet sondern liquidiert.

Nicht erwähnt wird, dass auch die damalige isländische Regierung 2008 zunächst versucht hatte, Gelder zur Bankenrettung zu erhalten, allerdings keine Kredite mehr bekommen hatte. Davon profitierte Island später: Die Schulden aus der Pleite der isländischen Banken belasten heute nicht die Allgemeinheit. 47 Milliarden Euro Schulden seien auf diese Weise von den Gläubigern der Banken und nicht der Bevölkerung getragen worden, berichtete der Deutschlandfunk am Dienstag .

Auch Gesundheitswissenschaftler McKee gibt zu, dass das isländische Modell nicht ohne weiteres auf andere Länder übertragen werden kann. Island ist nicht Teil des Euro-Raums und konnte deshalb in der Krise seine Währung abwerten. Auch die Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung könnten in den kommenden Jahren in Island noch sichtbar werden: Es gibt Berichte über Ärzte und Krankenschwestern, die das Land verlassen, so dass die medizinische Versorgung der Bevölkerung schwierig wird.

Sorgloses Deutschland

Über das deutsche Gesundheitssystem machen die "Lancet"-Autoren sich keine Sorgen, da es von der Krise kaum betroffen sei. "Wir haben keine Auswirkungen auf die Gesundheit erwartet, und wir sehen auch keine", sagt McKee. Allerdings fordert er von seinen deutschen Kollegen, sie sollten sich in die politische Debatte einmischen.

Der Arzt und Gesundheitswissenschaftler Karl Lauterbach (SPD) forderte die Bundesregierung auf, sich bei Verhandlungen über Hilfsprogramme dafür einzusetzen, dass ein Teil der Mittel in die "maroden, verfallenen Gesundheitssysteme" investiert würde. "Wir können nicht die Banken retten, aber die Krankenhäuser fallenlassen." Die Ergebnisse der "Lancet"-Analysen nannte Lauterbach keine Überraschung. Durch die Krise nehme der existenzielle Stress für die Menschen massiv zu, etwa wegen der Angst, die Arbeit oder die Altersvorsorge zu verlieren. Zudem verursache Arbeitslosigkeit mehr Krankheiten wie Herzinfarkt, Diabetes oder Krebs.

Ein Sprecher von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) bezeichnete es als evident, dass wirtschaftlich schwierige Verhältnisse auch Rückwirkungen auf das Gesundheitssystem hätten. Die deutsche Regierung unterstütze im Rahmen von EU-Projekten gerade Griechenland bei der Restrukturierung seines Gesundheitssektors.

Wie aber sollen die betroffenen EU-Staaten mitten in der Finanzkrise auf die Auswirkungen der Sparmaßnahmen reagieren? Dazu befragt, verweist McKee auf die Kritik von Volkswirten wie dem US-Nobelpreisträger Paul Krugman , der in seinem Blog bei der "New York Times" regelmäßig die Sparprogramme der Europäischen Union kritisiert und schuldenfinanzierte Investitionen in der Krise fordert.

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