Gesundheitsstudie Greenpeace kürt die zehn schmutzigsten Kohlekraftwerke

Kraftwerk Jänschwalde (im November 2009): Neue Studie beklagt Gesundheitsfolgen
Foto: FABRIZIO BENSCH/ REUTERSBraunkohle boomt, Steinkohle auch. Für die Stromerzeugung in Deutschland sind beide Rohstoffe zwischen 2009 und 2012 kontinuierlich wichtiger geworden - Energiewende hin oder her. Das belegen die Statistiken der AG Energiebilanzen. Und auch auf globaler Ebene wird Kohle in den kommenden Jahren nicht nur massiv zulegen, so die Prognose der Internationalen Energieagentur , sondern gar zum Top-Energieträger des Planeten.
Das sind, wegen der CO2-Emissionen, schlechte Nachrichten für das Weltklima. Weil aber aus den Schornsteinen nicht nur Treibhausgas strömt, sind es auch schlechte Nachrichten für die Gesundheit: Luftverschmutzung durch Schwefeldioxid, Stickoxide, Feinstaub und giftige Metalle kann unter anderem zu Atemwegserkrankungen, Lungenkrebs und Herzinfarkten führen.
Die Umweltorganisation Greenpeace hat am Mittwoch eine Studie zu den Gesundheitsfolgen der Kohleverstromung in Deutschland vorgestellt. Sie basiert auf einem Computermodell ("EcoSense") des Instituts für Energiewirtschaft und rationelle Energieanwendung der Universität Stuttgart. Betrachtet werden die 67 größten der 140 Braun- und Steinkohlekraftwerke in Deutschland - und zwar mit den Emissionen des Jahres 2010. Außerdem untersucht die Studie, welche Folgen ein gutes Dutzend geplante Kraftwerksprojekte haben könnten.
Unter den zehn gesundheitsgefährlichsten Kohlekraftwerken des Landes sind dem Bericht zufolge neun Braunkohleanlagen und ein Steinkohlemeiler. Insgesamt, so Greenpeace, hätten die Emissionen der deutschen Kohlekraftwerke im Jahr 2010 zu 3100 verfrühten Todesfällen geführt. Durch die Steigerung des Kohleeinsatzes dürften der Studie zufolge seit 2010 pro Jahr noch einmal 155 Fälle dazugekommen sein.
Die problematischsten Kohlekraftwerke
Kraftwerke, Ort | Betreiber | Brennstoff | Verfrühte Todesfälle pro Jahr | Verlorene Lebensjahre | Verlorene Arbeitstage | |
---|---|---|---|---|---|---|
1 | Jänschwalde, Peitz | Vattenfall | Braunkohle | 373 | 3.986 | 84.149 |
2 | Niederaußem, Bergheim | RWE | Braunkohle | 269 | 2.881 | 61.075 |
3 | Lippendorf, Böhlen | Vattenfall | Braunkohle | 212 | 2.272 | 47.995 |
4 | Weisweiler, Eschweiler | RWE | Braunkohle | 172 | 1.844 | 39.091 |
5 | Frimmersdorf, Grevenbroich | RWE | Braunkohle | 164 | 1.754 | 37.182 |
6 | Boxberg | Vattenfall | Braunkohle | 164 | 1.756 | 37.018 |
7 | Neurath, Grevenbroich | RWE | Braunkohle | 160 | 1.712 | 36.291 |
8 | Scholven, Gelsenkirchen | E.ON | Steinkohle | 129 | 1.378 | 29.202 |
9 | Schwarze Pumpe, Spremberg | Vattenfall | Braunkohle | 110 | 1.175 | 24.817 |
10 | Schkopau, Korbetha | E.ON | Braunkohle | 76 | 817 | 17.253 |
Die nur scheinbar genauen Zahlen sind unter anderem wegen statistischer Unsicherheiten mit Vorsicht zu genießen. Doch erst im März hatte ein europaweiter Verbund von Umwelt- und Gesundheitsorganisationen vorgerechnet, dass die Kohleverstromung die EU-Gesundheitssysteme mit jährlich 43 Milliarden Euro belasten würde. Für Polen sagte die Studie des Heal-Netzwerks ("Health and Environment Alliance") bis zu acht Milliarden Euro Extrakosten voraus. Auf Platz zwei folgte bereits Deutschland, auf das sich die Greenpeace-Studie nun konzentriert. Hier fallen demnach, ebenso wie in Rumänien, bis zu sechs Milliarden Euro zusätzliche Gesundheitskosten pro Jahr an.
Die Europäische Umweltagentur geht in einem Bericht von 2012 davon aus, dass EU-Bewohner durch Luftverschmutzung im Schnitt eine um neun Monate verkürzte Lebenserwartung haben - auch wenn der dafür verantwortliche Feinstaub selbstverständlich nicht nur aus Kohlekraftwerken stammt, sondern zum Beispiel auch aus dem Straßenverkehr.
Ausbreitung der Schadstoffe simuliert
"Saubere Kohle gibt es nicht", heißt es in dem nun veröffentlichten Greenpeace-Bericht - auch wenn die "erheblichen Fortschritte" beim Emissionsschutz anerkannt werden. Insgesamt mache die Politik aber zu wenig Druck auf die Energieversorger. Anders als es zum Beispiel in den USA geschieht und auch hierzulande möglich wäre.
In einem speziellen europäischen Register ("E-PRTR") lassen sich die Emissionsdaten der Kohlekraftwerke nachlesen. Von hier stammen auch die Ausgangsdaten für die aktuelle Modellierung. Im Computer simulierten die Stuttgarter Forscher die Ausbreitung der Schadstoffe und chemische Reaktionen in der Atmosphäre. So errechneten sie die zu erwartende Belastung in einem bestimmten Gebiet am Boden.
Je nach Besiedelungsdichte wurde dann bestimmt, wie viele Menschen betroffen wären. Wissenschaftliche Basis für die Folgen der Feinstaubbelastung ist unter anderem eine US-Studie von 2002. Die Stuttgarter Forscher geben als Ergebnis "verlorene Lebensjahre" (durch frühzeitige Todesfälle) und "verlorene Arbeitstage" (durch Erkrankungen) an. Demnach gehen durch die Kohleverstromung in Deutschland pro Jahr auf die Gesamtbevölkerung berechnet 33.000 Lebensjahre und 70.000 Arbeitstage verloren.
Greenpeace hat daraus die Zahl der möglichen Todesfälle errechnet. Frühzeitiges Sterben durch die Folgen von Feinstaub raubt demnach pro Betroffenem im Schnitt 10,7 Lebensjahre. Bei Todesfällen infolge von smogbedingter Ozonbelastung sind es neun Lebensmonate.
Die Kraftwerksbetreiber haben bisher stets auf die strengen Grenzwerte verwiesen, die für ihre Anlagen gelten. Die "Frankfurter Rundschau" zitierte im März aus einer Studie des Fachverbands der Kraftwerksbetreiber, VGB Power Tech, aus dem Jahr 2011. Demnach gebe es bei Kohlekraftwerken "keine Hinweise auf spezifische Gesundheitsbeeinträchtigungen der anwohnenden Bevölkerung". Klagen von Anwohnern über das "gehäufte Auftreten von Krebs- und Atemwegserkrankungen sowie Allergien" seien "als nicht plausibel einzustufen".
Zur aktuellen Studie erklärte der Verband, nur wenige Prozent der vom Menschen hervorgerufenen Feinstaubemissionen stammten aus Europas Kohlekraftwerken. Greenpeace blende "derart wichtige Fakten und weitere wesentliche Erkenntnisse zum Thema Feinstaub" aber vollständig aus: "Wer so agiert, dem geht es nicht um eine seriöse Debatte, sondern vielmehr darum, den Energieträger Kohle zu diskreditieren", so VGB Power Tech.
Debatte auch um Gesundheitsfolgen der Kernkraft
Die aktuellen Ergebnisse dürften auch eine Debatte befeuern, die den Umweltschützern nicht besonders lieb sein kann. Es stellt sich die Frage, ob sich die Gesundheitsrisiken der Kohleverstromung nicht auch durch die bei ihnen so ungeliebte Atomkraft lösen ließen. Denn ungeachtet aller anderen möglichen Probleme - Störfälle und radioaktiver Abfall zum Beispiel - produzieren die Meiler zumindest keine schädlichen Luftschadstoffe.
Klimaforscher Jim Hansen, der jüngst der US-Weltraumbehörde Nasa den Rücken gekehrt hat, veröffentlichte dazu gerade mit einem Kollegen eine Untersuchung. Im Fachblatt "Environmental Science & Technology" rechnen die Wissenschaftler vor, dass durch Atomkraftwerke weltweit insgesamt 1,84 Millionen verfrühte Todesfälle im Zusammenhang mit Luftverschmutzung verhindert worden seien. Dazu käme eine Einsparung von Treibhausgasen im Umfang von 64 Gigatonnen CO2-Äquivalent.
Und das sind nur die historischen Daten: Auch in Zukunft, so prognostizieren die Wissenschaftler, könnte die Atomkraft in dieser Hinsicht segensreich wirken. 420.000 bis 7,04 Millionen verfrühte Todesfälle und 80 bis 240 Gigatonnen CO2-Äquivalent könne ihr Einsatz allein bis zur Mitte des Jahrhunderts weltweit vermeiden.
Man kann aber auch die drohenden Probleme bei der Atomkraft nicht ohne weiteres außen vor lassen, wenn die Gesundheitsfolgen betrachtet werden. Da ist das zumindest leicht gestiegene Krebsrisiko nach Katastrophen wie in Fukushima. Da ist aber auch die lang anhaltende Debatte über die vermeintliche Häufung von Krebsfällen in der Nähe von Reaktoren und Endlagern. Welche der beiden Energieerzeugungsformen langfristig problematischer ist, lässt sich also nicht so einfach sagen. Das könnte letztendlich die Anhänger erneuerbarer Energien freuen.
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