Systematischer Betrug Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Implantat-Spezialist

Es ist einer der größten Zahnarzt-Skandale in Deutschland: Mehr als hundert Patienten soll ein Arzt aus Hannover systematisch betrogen haben. Jetzt erhebt die Staatsanwaltschaft gegen den Implantologie-Spezialisten Anklage.
Künstliches Gebiss: Zahnarzt L., der auch im TV immer wieder als Implantat-Papst auftrat, soll systematisch Patienten geschädigt haben

Künstliches Gebiss: Zahnarzt L., der auch im TV immer wieder als Implantat-Papst auftrat, soll systematisch Patienten geschädigt haben

Foto: Peter Macdiarmid/ Getty Images

Rita S. ist erleichtert. Endlich, sagt sie. Die Rentnerin gehört zu mehr als hundert mutmaßlich geschädigten Patienten eines Hannoveraner Zahnarztes, gegen den die Staatsanwaltschaft jetzt Anklage erhoben hat. Seit zehn Jahren hat Rita S. darauf gewartet, "auch um andere Patienten zu schützen". 2004 setzte L. ihr 14 Implantate ein - medizinisch gesehen viel zu viele. Die Rechnung über 33.000 Euro trieb die Rentnerin in den finanziellen Ruin.

Kein Einzelfall, sagen Patienten, die sich zu einer Initiative zusammengeschlossen haben. Und davon geht nun auch die Staatsanwaltschaft aus: gewerbsmäßiger Betrug und versuchter gewerbsmäßiger Betrug lautet der Vorwurf. "Es geht um 60 Straftaten", sagt Staatsanwalt Oliver Eisenhauer. "L. soll Leistungen abgerechnet haben, die er nicht erbracht hat oder die nicht abrechnungsfähig waren."

In der Anklage geht es um einen Betrag von 120.000 Euro. Die Schadenssumme könnte aber deutlich größer sein, denn nicht alle betroffenen Patienten haben die Rechnungen, die L. ausstellte, bezahlt. Ende 2013 hatte die Staatsanwaltschaft das Schadensvolumen noch auf rund 400.000 Euro geschätzt. Einige Fälle wurden nicht weiterverfolgt.

Zivilverfahren laufen seit Jahren

Ob es zum Prozess kommt, muss nun die Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Hildesheim entscheiden. Der Fall L. ist wohl einer der größten Zahnarzt-Skandale in Deutschland. Der Umfang der Vorwürfe sei "ziemlich einzigartig", sagt Michael Sereny, Präsident der Landeszahnärztekammer Niedersachsen. Bereits 2012 durchsuchte die Polizei die Praxis und die Privaträume von L. Seit Jahren laufen Zivilverfahren zwischen Patienten und Abrechnungsgesellschaften des Implantat-Spezialisten.

L. gehört zu den schillerndsten und umstrittensten Vertretern seiner Zunft. Jetzt droht ihm möglicherweise eine Freiheitsstrafe: Ist bei einer Vielzahl von Betrugsfällen das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit erfüllt, sieht das Strafgesetzbuch  in besonders schweren Fällen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vor.

L. soll häufig teure digitale 3D-Technik eingesetzt und mit einem computergestützten Navigationssystem für das Einsetzen von Implantaten geworben haben. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass L. Behandlungen mit diesem "Robodent" in den zweieinhalb Jahren vor der Razzia abgerechnet hat, ihn aber gar nicht benutzte. Bei der Durchsuchung 2012 wurde die Festplatte des Geräts beschlagnahmt.

Das System Dr. XXL

Für den Anwalt des Zahnarztes steht die Anklage dagegen "auf tönernen Füßen": "Wir haben schon dem Sachverständigen gezeigt, dass die umstrittenen Abrechnungsziffern sehr wohl abrechenbar waren", sagt Manfred Parigger. Die teils aufgeheizte Stimmung gegen L. könne man "fast mit einer Hexenverfolgung vergleichen". Sein Mandant werde um seine Rehabilitation kämpfen.

Zudem müsse man die Vorwürfe aus den Zivilverfahren von der jetzigen Anklage trennen, so wie den Fall von Rita S., die die Zivilverfahren rechtskräftig in zwei Instanzen verloren habe. Zudem habe L. seit seiner Spezialisierung 16.000 Implantate gesetzt, da könnten Fehler passieren. In solchen Fällen habe es bei den Zivilverfahren Abzüge vom Honorar gegeben.

Marc Chérestal, Medizinrechtsanwalt aus Hannover, vertritt mehr als 50 Patienten, die sich von L. geschädigt fühlen. Für ihn ist die Anklageerhebung ein "wichtiges Signal", denn L. konnte stets weiterpraktizieren. Gerade im Juni sei noch ein Patient von L. zu ihm gekommen. Aus Sicht der Patienteninitiative Hannover für Dental-Implantologie-Geschädigte  handelt es sich um ein "System Dr. XXL": Der Zahnarzt erschleiche sich die Unterschriften seiner Patienten für überteuerte Privatleistungen.

Berufsverbot

Vor rund einem Jahr hatte die Staatsanwaltschaft Hannover beantragt, ein vorläufiges Berufsverbot gegen Dr. L. zu verhängen. Dem folgte das Amtsgericht aber nicht.Gemäß §5 des Gesetzes über die Ausübung der Zahnheilkunde kann ein Ruhen der Approbation angeordnet werden, wenn "gegen den Zahnarzt wegen des Verdachts einer Straftat, aus der sich seine Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit zur Ausübung des zahnärztlichen Berufs ergeben kann, ein Strafverfahren eingeleitet ist".Die Approbation ist die Erlaubnis zur Berufstätigkeit in einem akademischen Heilberuf. Sie kann nicht von der Landeszahnärztekammer entzogen werden, sondern nur durch ein Gericht oder durch die Landesbehörde, die sie verliehen hat, also Gesundheitsministerium oder Bezirksregierung.

So wie Rita S. seien vielen Patienten erst auf dem Behandlungsstuhl seitenweise Dokumente zur Unterschrift vorgelegt worden. Dass sie damit einer privatärztlichen Vereinbarung zustimmten, erkannten sie erst, als die Rechnung eintraf. Mangels Zeugen hatten die Betroffenen vor Gericht meist einen schweren Stand. L.s Anwalt Parigger: "Das wurde immer wieder behauptet, aber in den Zivilprozessen hat sich bisher nichts davon als wahr herausgestellt."

Die Zusammenhänge, sagt Patientenvertreter Chérestal, seien wegen der verstreuten Zivilverfahren lange nicht von den Richtern erkannt worden. "Nach Aussagen von Gutachtern aus anderen Verfahren soll Dr. L. seine Therapiewahl rein auf Gewinnmaximierung ausgerichtet haben."

Die Landeszahnärztekammer, die die Berufsordnung überwacht, setzte sich seit 2006 mit L. wegen einer "auffälligen Beschwerdehäufigkeit" und einer falschen Titelführung auseinander. Präsident Sereny räumte bereits 2013 ein, es erscheine unpassend, wenn der Zahnarzt weiterpraktizieren dürfe, verwies aber darauf, ein Verdacht reiche "nicht aus, um ein Ruhen der Approbation anzuordnen". Ein berufsrechtliches Verfahren folge erst nach einem ordentlichen Gerichtsverfahren. "Der Ball", sagt Sereny, "liegt jetzt beim Gericht."

Anmerkung der Redaktion vom 11. Oktober 2017: Das Landgericht Hildesheim hat die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen Dr. L. nicht zugelassen und das OLG Celle hat die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen diese Entscheidung verworfen.

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