
Heinz Frei: Gelähmt, 57 Jahre alt, topfit
Behindertensportler Heinz Frei "Du musst deinen neuen Körper lieben lernen"
Heinz Frei, Jahrgang 1958, war zehnmal Schweizer Behindertensportler des Jahres. Er hat eine Vielzahl von Erfolgen im Rennrollstuhl und im Handbike vorzuweisen. Er gewann 15 Goldmedaillen bei den Paralympics und siegte bei insgesamt 112 Marathons. Frei arbeitet bei der Schweizer Paraplegiker Vereinigung. Eine Teilnahme an den Paralympics 2016 hat er noch nicht ausgeschlossen. Frei wäre dann 58 Jahre alt.
SPIEGEL ONLINE: Herr Frei, es ist selten, dass eine Sportlerkarriere mit einem schweren Unfall beginnt. Sie sind 1978 mit 20 Jahren bei einem Berglauf schwer gestürzt und seitdem querschnittsgelähmt. Wie schwer war es, den Umgang mit Ihrem "neuen" Körper zu lernen?
Frei: Extrem schwierig. Als Sportler war ich es gewohnt, dass mein Körper wunderbar von Kopf bis Fuß funktioniert. Der Verlust von zwei Dritteln Körpergröße hat einfach nur geschmerzt. Es hat zwei Jahre gebraucht, bis ich die Veränderung einigermaßen verarbeitet hatte und mich neu orientieren konnte. Bevor du an Sport denken kannst, bevor du neue Perspektiven und Ideen entwickelst, musst du deinen neuen Körper lieben lernen. Das ist die Voraussetzung.
SPIEGEL ONLINE: Wie sind Sie dann zum Sport gekommen?
Frei: Der Rollstuhlsport steckte 1978 noch in den Kinderschuhen. Glücklicherweise kannte ich einige Leute, die mich in die Szene einführten, aber viel gab es nicht. Ich gehöre noch einer Pionierzeit an, in der wir selber Hand anlegen und unsere eigenen Sportgeräte bauen mussten.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind seit Jahrzehnten einer der erfolgreichsten Sportler der Schweiz. Hatten Sie nie größere Unfälle während eines Rennens zu beklagen?
Frei: Nein, da muss ich mich wirklich bei meinem Schutzengel bedanken. Ich habe in den vergangenen 37 Jahren nie größere Rückschläge erlitten: keine schwerwiegenden Rennunfälle, Krankheiten, ernsthaften Sportverletzungen wie Sehnenabrisse oder Muskelverletzungen. Es ist ein bisschen wie ein Wunder. Auch wenn man bedenkt, welche spezifischen Gefahren für Querschnittsgelähmte lauern.
SPIEGEL ONLINE: Welche sind das?
Frei: Ich muss sehr diszipliniert sein und immer vordenken. Als Beispiel: Wenn ich zu lange auf einer harten Unterlage sitze, riskiere ich gefährliche Druckstellen - von denen ich aber nichts spüre. Für die Heilung muss man Wochen im Krankenhaus verbringen. Oder im Winter: Da muss ich immer überlegen, wie kalt es wohl werden wird und mich dementsprechend kleiden, damit ich keine Erfrierungen erleide. Auch Blasenentzündungen sind sehr häufig. Ich muss ständig aufmerksam bleiben.
SPIEGEL ONLINE: Finden Sie, dass Sportler mit einer Behinderung denselben Respekt erfahren wie andere Sportler?
Frei: Durchaus, da spüre ich keinen großen Unterschied. Die Leute in der Schweiz kennen mich in erster Linie als Sportler und nicht als Rollstuhlfahrer. Auch beim Sponsoring ist einiges passiert. Behindertensport kann sich nicht mit Fußball, Radfahren oder Tennis vergleichen, aber durchaus mit anderen Randsportarten. Mittlerweile gibt es einige, die sich voll und ganz auf den Sport konzentrieren können.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben unzählige Goldmedaillen und Titel gewonnen. Welcher Erfolg sticht für Sie heraus?
Frei: Bei den Paralympics in Peking 2008 konnte ich im zarten Alter von 50 Jahren noch zwei Goldmedaillen gewinnen. Für mich war es ein Wendepunkt in meiner Karriere, weil ich das erste Mal im Handbiking gestartet war. Es fühlte sich an wie ein zweiter oder eher dritter Frühling. Und ich habe gemerkt: Aha. Wenn man älter wird und Siege nicht mehr so selbstverständlich sind, macht alles noch viel mehr Spaß.
SPIEGEL ONLINE: Was ist der größte Unterschied zwischen Rennrollstuhl- und Handbikefahren?
Frei: Rollstuhlfahren ist bei uns in der Leichtathletik angesiedelt und findet vorwiegend auf der 400-Meter-Bahn oder auf der klassischen Marathonstrecke statt. Handbike ist wie Radfahren. Das ist für mich Naturerlebnis pur. In der liegenden Position hat man eine tolle Sicht, anders als im Rollstuhl, wo man eher eine Vornüberhaltung hat. Da sieht man nur Asphalt, Gullys und Grasbüschel. Wenn man bei 90 bis 95 Stundenkilometern im Handbike liegt, ist das schon geil.
SPIEGEL ONLINE: Verfolgen Sie den Stand der Wissenschaft, die daran arbeitet, Querschnittslähmung heilbar zu machen? (Am 3. Mai gibt es dazu einen weltweiten Lauf, den Wings für Life World Run , bei dem 100 Prozent der Startgelder in die Rückenmarksforschung fließen.)
Frei: Ja, das interessiert mich. Ich bin im Stiftungsrat der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, der Forschungsgelder bereitstellt. Zwar warte ich für mich persönlich nicht darauf, wieder auf die Beine zu kommen, aber mir ist es wichtig, dass wir Bemühungen wie den Wings for Life World Run unterstützen und anderen Menschen im Rollstuhl Hoffnung geben.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind 57 Jahre alt und immer noch topfit. Wie haben Sie das geschafft?
Frei: Schwer zu sagen. Manchmal wundere ich mich selbst. Es ist ein Privileg, dass ich so viele Erfolge genießen durfte und immer noch darf. Wenn ich nach Gründen dafür suche müsste, würde ich sagen: Es ist die grundsätzliche Freude an der Bewegung. Denn ich weiß, wie es ist, wenn man im Spitalbett liegt, nichts tun kann und alles über sich ergehen lassen muss. Das war nach meinem Unfall ein großer Schock. Vielleicht wirkt dieses Schockgefühl immer noch nach. Ich möchte diese aktive Komfortzone so lange wie möglich mit eigenem Einsatz und Training aufrechterhalten. Das motiviert mich, auch im hohen Alter noch Spitzensport zu betreiben.