Impf-Durchbruch Wie eine Abtreibung dabei half, Millionen Leben zu retten

Ein Durchbruch Anfang der Sechzigerjahre ermöglichte es, Impfstoffe gegen Masern, Röteln und viele andere Viren zu entwickeln. Das konnte allein in den USA Hunderttausende Menschen retten.
Impfung (Symbolbild)

Impfung (Symbolbild)

Foto: Sean Gallup/ Getty Images

Vor mehr als 50 Jahren entschied sich eine Frau in Schweden dazu, abzutreiben. Der Fötus war gesund, die Mutter aber wollte ihre Familie nicht weiter vergrößern. Damals ahnte sie noch nicht, dass ihr Schritt der Medizin zu einem entscheidenden Durchbruch verhelfen würde - und Millionen Menschenleben retten, wie eine aktuelle Berechnung für die USA zeigt.

Nachdem der Arzt den Fötus entnommen hatte, wickelte er ihn in ein grünes, steriles Tuch ein und schickte ihn ins Karolinska Institut in Stockholm. Dort entnahmen Forscher die Lungen, legten sie auf Eis und schickten sie mit einem Flugzeug weiter ans Wistar Institute for Anatomy and Biology in Philadelphia, Pennsylvania. In dem Bundesstaat waren Abtreibungen von gesunden Föten nicht erlaubt. Gleichzeitig erhoffte sich der junge, ambitionierte Mikrobiologe Leonard Hayflick von der umstrittenen Sendung aber einen großen Fortschritt für die Medizin.

Tatsächlich gelang es Hayflick, das Lungengewebe des Fötus erst in seine einzelnen Zellen aufzulösen und diese anschließend dazu zu bringen, sich zu teilen. Damit hatte er im Jahr 1962 etwas erschaffen, das Forschern bis dahin für die Entwicklung vieler Impfstoffe fehlte: eine Quelle für gesunde, menschliche Zellen. Sie ermöglichte es, Viren für die Medikamente zu züchten.

450.000 Leben in den USA

Bereits ein Jahr nach der Entwicklung der Zelllinie, 1963, kam ein Polio-Mittel auf den Markt. Es war der erste Impfstoff, der mithilfe der Zellen produziert wurde. Nach und nach folgten Mittel gegen Mumps, Masern, Röteln, Tollwut, Windpocken und Hepatitis A.

Auf diesem Weg schützte die von Hayflick entwickelte Zelllinie WI-38 allein in den USA bis 2015 fast 200 Millionen Menschen vor einer gefährlichen Infektion. Rund 450.000 Menschen wären ohne die Impfungen in den USA frühzeitig gestorben, schreiben zwei US-Forscher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Aims Public Health" .

Für ihre Rechnung hatten die Forscher analysiert, wie viele Menschen 1960 - vor der Entwicklung der Zelllinie und den damit verbundenen Impfstoffen - an den Leiden erkrankt und gestorben waren. Diese Daten rechneten sie bis zum Jahr 2015 hoch, mit der Annahme, dass nie Impfstoffe entwickelt worden wären. So kamen beispielsweise 1960 noch 85 Prozent der Kinder, deren Mutter zu Beginn der Schwangerschaft mit Röteln infiziert war, mit erheblichen Geburtsschäden zur Welt. Polio führte jedes Jahr zu rund 15.000 Lähmungsfällen.

Auf die ganze Welt gesehen liegt die Zahl der durch die Impfstoffe geretteten Leben noch deutlich höher. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat allein die Masernimpfung zwischen 2000 und 2013 schätzungsweise mehr als 15 Millionen Todesfälle verhindert.

Die Fötuszellen dienten dabei als eine Art Zuchtanlage für die Krankheitserreger. Viele Impfstoffe enthalten Bruchstücke von Viren oder abgeschwächte Formen der Erreger, die die Krankheit in aller Regel nicht mehr auslösen können. Sie aktivieren aber das Immunsystem, sodass es Antikörper gegen die Viren entwickelt. Diese schützen fortan vor einer Infektion. Das Problem im Hinblick auf die Impfstoffproduktion: Viren können sich nicht ohne fremde Hilfe fortpflanzen, aus diesem Grund gelten sie auch nicht als Lebewesen.

Stattdessen programmieren sie die von ihnen befallenen Zellen so um, dass diese eine Viruskopie nach der anderen bauen. Anfangs versuchten Forscher, Impfstoffe mit Zellen aus dem Nierengewebe von Affen zu produzieren. Diese enthielten jedoch immer auch ungewollte Krankheitserreger, die bei Labortieren unter anderem zu Tumoren führten. Erst die gesunden, ursprünglich aus dem Fötus gewonnen Zellen ermöglichten eine sichere Virus- und damit auch Impfstoffproduktion.

Eine gefäh rliche Entwicklung

Mit ihren aktuellen Berechnungen wollen die Forscher daran erinnern, wie wichtig Impfstoffe für die Gesundheit der Gesellschaft sind. Heute, schreiben sie, gebe es wieder eine gefährliche Entwicklung hin zu niedrigeren Impfquoten. "Wenn die Bewegung der Impfgegner noch an Kraft gewinnt, werden entwickelte und Entwicklungsländer einen gefährlichen Schritt zurück machen beim Gesundheitsschutz", so die Forscher. Betroffen seien vor allem Kinder.

Gleichzeitig zeigt die Geschichte aber auch, wie schwierig ethische Abwägungen in der medizinischen Forschung sein können. Abtreibungsgegner lehnen die Impfungen auf Basis der Zelllinie bis heute ab. Auch sei trotz des jahrzehntelangen Einsatzes noch immer nicht die Frage geklärt, wem die Zellen eigentlich gehören, heißt es in einem Artikel des Fachmagazins "Nature" . Die Gesellschaft hat das zumindest auf finanzieller Ebene beantwortet: Unternehmen haben mittlerweile Millionen mit ihnen verdient. Die Eltern aber erhielten wahrscheinlich nie etwas - zumindest kein Geld.

irb
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