
Viren: Klein und gefährlich
Krankheitserreger Die unheimliche Macht der Viren
Litten Menschen früher unter Magengeschwüren, hieß es meist: der Stress. Umso erstaunter reagierte die Fachwelt, als 1983 Barry Marshall und John Robin Warren, zwei australische Forscher, verkündeten, sie hätten das Stäbchenbakterium Helicobacter pylori als Ursache für dieses und andere Magenleiden ausgemacht. Bis sich die allgemeine Lehrmeinung ihnen anschloss, vergingen jedoch noch etliche Jahre. 2005 immerhin wurden die beiden für ihre Entdeckung mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt.
Vielleicht wird das Forscherteam der Orthopädischen Universitätsklinik im kretischen Heraklion einmal ähnlich triumphieren. Die Entdeckung der griechischen Wissenschaftler klingt mindestens ebenso erstaunlich. Von den Konsequenzen ganz zu schweigen. Denn diesmal geht es nicht um Bakterien, die wir mit Antibiotika bekämpfen können, sondern um Viren. Und gegen die gibt es bislang noch kein wirksames Mittel.
Die griechischen Mediziner hatten Bandscheiben von 16 Patienten untersucht, die kurz vorher wegen eines Vorfalls operiert worden waren. Zum Vergleich zogen sie Patienten heran, die zwar auch am Rücken, dort aber wegen eines Wirbelbruchs aufgeschnitten worden waren. Das verblüffende Ergebnis: Bei 13 der Vorfall-Patienten fand man mindestens einen Virus-Vertreter aus der Herpes-Klasse, und zwar am häufigsten Herpes simplex Typ 1, also jenen Erreger, der den meisten durch die Lippenbläschen bekannt ist. Im Bandscheibengewebe der Vergleichsgruppe fand man hingegen überhaupt keine Erreger.
Herpesviren als Auslöser für Bandscheibenvorfall?
Dass Grippe, AIDS, Windpocken und Masern durch die kleinsten aller Mikroorganismen ausgelöst werden, ist bekannt. Doch ein Bandscheibenvorfall? Dieser einschießende, geradezu unerträgliche Schmerz, der mitunter bis in die Arme und Beine zieht? Hier stellt man sich doch eher vor, dass die kaputte Bandscheibe in den Rückenmarkkanal "ausquillt", wo sie dann auf den Nervenstrang drückt. Und das wiederum, so die medizinische Lehrmeinung, wird durch Bewegungsmangel und ungünstige Körperhaltungen provoziert. Nun bringt die griechische Studie Herpesviren als Auslöser ins Spiel.
Fragt sich: Wie kommen sie dorthin? In den Bandscheiben gibt es keine Adern, über die sich der Erreger im Gewebe verteilen und festsetzen könnte. Studienleiter Kalliopi Alpantaki hat dennoch eine durchaus schlüssige Erklärung: "In der Kindheit sind die Bandscheiben noch einige Jahre mit Blutgefäßen durchzogen, und Herpes-Infektionen treten in dieser Zeit ebenfalls sehr häufig auf." Im Kindesalter bieten sich also dem Erreger noch genug Chancen, die Bandscheiben zu infizieren. Dort macht er dann, wie man es ja auch von den Lippenbläschen kennt, erst mal eine mehrjährige Pause, bis er durch Immunschwäche sowie durch Entzündungen und kleine Einrisse an den Bandscheiben erneut zum Leben erwacht. Mit bösen Folgen, denn "die Viren tragen zur weiteren Degeneration der Bandscheiben bei", so Alpantaki.
Viren mischen bei den unterschiedlichsten Erkrankungen mit
Bleibt festzuhalten, dass der Herpes-Erreger auch nach dieser Studie nur eine von mehreren Ursachen für den Bandscheibenvorfall ist, denn ohne Schädigungen an der Wirbelsäule würde er ja gar nicht reanimiert werden. Doch es ist schon bemerkenswert, wie hier Viren bei einer Erkrankung mitspielen, die bislang überhaupt nicht als Folge einer Infektion betrachtet wurde. Und der Bandscheibenvorfall steht in dieser Hinsicht keineswegs allein. Wissenschaftliche Daten der letzten Jahre zeigen: Viren mischen bei den unterschiedlichsten Erkrankungen und Störungen mit.
So untersuchten amerikanische Forscher das Fettgewebe von über 500 Übergewichtigen - und in einem Drittel der Fälle fanden sie darin das Adeno-Virus 36, abgekürzt Ad-36. Bei schlanken Menschen lag die Infektionsquote hingegen nur bei fünf Prozent. Die Wahrscheinlichkeit für einen Ad-36-Fund war also bei den fettleibigen sechsmal so hoch wie bei den idealgewichtigen Testpersonen. Für Studienleiter Nikhil Dhurandhar von der Universität Wisconsin ein deutlicher Hinweis auf eine "infectobesity": infektiöses Übergewicht.
Die Arbeit des Virus stellt sich der Biochemiker und Ernährungswissenschaftler so vor, dass es potenzielle Fettzellen genetisch "überredet", sich zügig zu ausgewachsenen Fettzellen zu entwickeln. Nun gehört die Manipulation des Erbguts grundsätzlich zu den Spezialitäten der Viren. Das Besondere am Ad-36 ist jedoch, dass es offenbar nicht nur, wie bislang bekannt, Schnupfen und andere Atemwegserkrankungen auslöst, sondern auch Fettzellen befällt.
Das Borna-Virus hingegen ist schon länger für schwerere Erkrankungen bekannt. Allerdings fand man es zunächst nur im Hirn verhaltensauffälliger Pferde, die an der "hitzigen Kopfkrankheit" litten und mit ihren Depressions- und Aggressionsschüben auffielen. Doch Ende der 70er Jahre entdeckte man Spuren des Erregers auch bei menschlichen Schizophrenie-Patienten. Laut einer aktuellen japanischen Studie hat er vermutlich schon vor mehreren Millionen Jahren im menschlichen Erbgut diesen Gendefekt verursacht. Die Veranlagung für Depressionen und Schizophrenie hat also ihren Ursprung offenbar in einem Virus.
Immer mehr Krankheiten zeigen Zusammenhänge mit viralen Infektionen
Mittelalterliche Dokumente förderten wiederum zutage, dass Menschen nach einem schweren Atemwegsinfekt unerklärliche Bewegungsstörungen entwickelten. Litten sie an Parkinson? Dafür spricht, dass man im Labor des St. Jude Children's Research Hospital in Tennessee bei Mäusen eine Schüttellähmung à la Parkison auslösen konnte, indem man ihnen den Vogelgrippe-Erreger H5/N1 injizierte. Dass dies auch beim Menschen funktionieren könnte, zeigt, zumindest nach Meinung einiger Forscher, die Spanische Grippe von 1918. In deren Folge kam es zu einem deutlichen Anstieg parkinsonähnlicher Symptome, die als "Europäische Schlafkrankheit" in die Medizingeschichte eingingen.
Auch bei Demenz und Vergesslichkeit spielen oft Viren mit. Wie etwa der HIV-Erreger, der Hirnzellen tötet und ihre Neubildung verhindert, sodass es am Ende zur berüchtigten "AIDS-Demenz" kommt. Oder wieder einmal Herpes simplex, der im Gehirn verhindert, dass die Alzheimer-Plaques abgebaut werden. Andere Viren dagegen veranlassen in der Niere die Ausschüttung von Enzymen, die zu hohem Blutdruck führen, und in Hautkrebsgeschwüren findet man auch fast immer die Winzlinge, die sich meisterhaft auf das Umpolen genetischer Codierungen verstehen.
Arthritis, Typ-1-Diabetes und möglicherweise Multiple Sklerose sind demgegenüber das Resultat einer mikrobiologischen Verwechslung: Viren dringen in den Organismus ein und erinnern die Immunabwehr an bestimmte Gewebestrukturen des Körpers, die daraufhin - durch den Infekt bis zur Hyperaktivität hochgepuscht - mit ihren Antikörpern nicht nur die Feinde, sondern auch körpereigene Zellen attackiert. Ein Irrtum mit Folgen: Nach einer Gürtelrose etwa haben die Patienten ein vierfach erhöhtes Risiko für Multiple Sklerose.
Nach wie vor ist über Viren "nur banal wenig" bekannt
Fazit: Immer mehr Krankheiten zeigen Zusammenhänge mit viralen Infektionen, und das kann nicht nur daran liegen, dass sich in den letzten Jahren die Techniken, um sie nachzuweisen, verfeinert haben. Nach wie vor sei, wie Mikrobiologe Gero Beckmann vom Institut Romeis in Bad Kissingen betont, über Viren "nur banal wenig" bekannt. Denn im Labor sind sie nur schwer zu züchten, weil sie keinen eigenen Stoffwechsel haben und sich ihr Leben von ihrem Wirtsorganismus ausleihen. Was konkret bedeutet: Sie gedeihen nicht auf bloßem Nährmedium, sondern brauchen lebende Zellkulturen. Das macht ihre Erforschung so aufwendig und teuer, dass diese von Industrie und Wissenschaft nur bei konkreten Krankheitszusammenhängen mobilisiert wird, wie etwa bei Grippe oder Hepatitis. Über die meisten Humanviren weiß man daher kaum etwas, sodass, wie Beckmann warnt, aus dieser Ecke noch "viele Überraschungen zu erwarten sind".
Hinzu kommt, dass die Quote an viralen Überraschungen durch den Klimawandel sowie die Reiselust und Urbanisierung des modernen Menschen weiter nach oben getrieben wird. So gelang 2003 der Lungenerkrankung SARS über den globalen Flugverkehr problemlos der Sprung von Asien nach Nordamerika, und die Immobilienkrise 2007 brachte den Kaliforniern eine Welle verheerender Gehirnentzündungen, weil sich in den verwahrlosten Swimmingpools ihrer verlassenen Villenviertel plötzlich jene Stechmücke tummelte, mit der das West-Nil-Virus auf Reisen geht. Dass kürzlich der Sindbis-Virus in Deutschland entdeckt wurde, liegt hingegen am Klimawandel. Denn dieser Erreger wird durch eine Mücke übertragen, die bisher nur in Nordafrika vorkam. Doch weil es im Norden immer wärmer wurde, haben sich beide bis nach Skandinavien ausbreiten können. Im Verlauf der Sindbis-Infektion entwickelt sich gleich an mehreren Gelenken eine hartnäckige und schmerzhafte Arthritis. Behandelt wird sie in der Regel falsch, weil niemand einen Virus hinter ihr vermutet.
Auch das aktuell stark beschleunigte Artensterben fördert die Verbreitung der Erreger. Denn betroffen sind hier, wie Felicia Keesing vom Bard College im amerikanischen Annandale vermutet, vor allem jene Tierarten, die sich nur untereinander anstecken und kaum Kotakt mit anderen Arten haben. "Die robusten Arten hingegen überleben", so die Biologin. Und sie sind dann diejenigen, die einem Erreger wie dem West-Nil-Virus oder dem Hanta-Virus den Weg ebnen, weil sie ihn in sich tragen, ohne selbst krank zu werden - und dadurch massiv zu seiner Verbreitung beitragen.
Ungeheure Flexibilität der Viren
Die Basis der viralen Revolution ist jedoch ihre ungeheure Flexibilität. Die winzigen Erreger mutieren im Eiltempo und tauschen untereinander immer wieder Erbgutfragmente aus, sodass sie sich als genetische Wundertüte auf praktisch alles einstellen können. Egal, ob Arten- oder Organbarrieren, ob Impfstoffe oder virostatische Medikamente - die Viren mutieren meistens irgendwann einmal darüber hinweg. Auf diese Weise gelingt ihnen der Sprung von den Lippen in die Bandscheibe und von der Fledermaus in den Menschen, und deswegen gibt es bis heute keine Impfung gegen Schnupfenviren, weil die es mittlerweile auf fast 120 leicht, aber entscheidend variierende Unterarten gebracht haben.
Doch trotz allen Virenalarms gibt es keinen Grund zur Panik. Denn gerade weil sie einerseits flexibel und andererseits auf Gedeih und Verderb von einem lebendigen Wirt abhängig sind, fahren diese Erreger bisweilen eine Art "Schmusekurs". Denn tot nutzt ihnen der Mensch nichts, also bringt ihre Evolution zwar immer mehr Vielfalt, aber keineswegs immer mehr lebensgefährliche Bedrohungen für uns hervor. Bahnt sich durch geschickte Abwehrstrategien beziehungsweise Vorsorgemaßnahmen eine Verminderung der Wirte an, lässt das Aggressionspotenzial der Viren nach, siehe HIV.
Dank zunehmenden Gebrauchs von Kondomen kann der Erreger nicht mehr so viele unterschiedliche Menschen befallen. Also muss er die wenigen, die ihm bleiben, am Leben lassen, um sich weiter verbreiten zu können. Dafür gibt es jetzt mehr AIDS-Patienten, die ein normales Alter erreichen. Ließe allerdings die Prävention wieder nach, würden auch die Viren blitzschnell ihre Strategie anpassen und erneut ihr gesamtes Gefahrenpotenzial auffahren.