Die Politik will endlich den Ärztemangel bekämpfen. Doch die Lage in den 894 Regionen Deutschlands ist höchst unterschiedlich: Mediziner mögen Westerland auf Sylt - und meiden das Umland von Ansbach in Bayern. Unsere interaktive Karte zeigt, wo Hausärzte fehlen.
Zu viele Hausärzte in der Stadt, zu wenige auf dem Land: Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe will den Landarztmangel per Gesetz kurieren. Sein Versorgungsstärkungsgesetz ist bereits der dritte Versuch der Bundesregierung seit 2007, den Missstand zu beheben. Doch die Situation hat sich seitdem eher verschlechtert als verbessert. Der Job ist mittlerweile so unattraktiv, dass sich kaum noch Medizinstudenten mit einer Praxis in ländlichen Regionen niederlassen wollen. In Sachsen-Anhalt werden sogar Ruheständler reaktiviert. In anderen Regionen gibt es dagegen fast doppelt so viele Hausärzte wie vorgesehen.
Munster in Niedersachsen gehört zu den Regionen mit dem geringsten Versorgungsgrad, jeder Allgemeinmediziner ist hier rein rechnerisch für rund 2900 Einwohner zuständig. Allerdings dürfte die Unterversorgung in der Realität nicht ganz so dramatisch ausfallen. Denn in Munster sind viele Soldaten der Bundeswehr stationiert, die von eigenen Truppenärzten versorgt werden.
Gibt es in Deutschland also eine flächendeckende Unterversorgung? Die Frage ist schwer zu beantworten, denn die Verantwortlichen im Gesundheitssystem können sich nicht auf eine eindeutige Diagnose einigen.
Laut der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses, des höchsten Gremiums im Gesundheitswesen, sollte ein Hausarzt 1671 Einwohner versorgen. Jede der 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) darf jedoch eigenständig von diesem Verhältnis abweichen, zum Beispiel wenn in einer Region besonders viele chronisch Kranke wohnen. Eine bundesweite Übersicht, wo welches Verhältnis von Einwohnern zu Hausärzten angestrebt wird, gibt es allerdings nicht.
Auf ganz Deutschland angewendet, zeigt sich: Für rund 80,6 Millionen Einwohner würden laut der Formel gut 48.000 Hausärzte benötigt. 2013 gab es in Deutschland laut Bundesärztekammer rund 43.200 berufstätige Allgemeinmediziner, wobei lediglich 37.400 von ihnen eine Praxis betrieben haben oder im ambulanten Bereich angestellt waren.
Unterversorgt sind offiziell nur elf Regionen
Wenn Ärzteschaft und Kassen von Unterversorgung sprechen, verweisen sie auf den Versorgungsgrad. Der gibt an, wie stark sich die tatsächlichen Arztzahlen vom Ziel der KV unterscheiden. Die einzelnen Akteure beurteilen den Versorgungsgrad aber unterschiedlich.
So gelten Regionen offiziell als unterversorgt, wenn sie einen Versorgungsgrad von 75 Prozent unterschreiten. Legt man diese Kriterien des Gemeinsamen Bundesauschusses an die Versorgungssituation an, kommt man zu einem erstaunlichen Ergebnis: In Deutschland sind demnach lediglich 11 der 894 Planungsbereiche für Hausärzte unterversorgt, etwa das Umland von Ansbach in Bayern, Munster in Niedersachsen und Grimmen in Mecklenburg-Vorpommern.
Für die Kassen fängt Unterversorgung aber bei weniger als 90 Prozent an. Auch der Sachverständigenrat zur Beurteilung der Entwicklung im Gesundheitswesen empfiehlt in seinem Gutachten vom August 2014, ab 90 Prozent einzugreifen. Nach dieser Definition wären 89 Regionen vom Hausarztmangel betroffen.
Die interaktive Deutschlandkarte zeigt den Versorgungsgrad in allen Planungsbereichen. Fahren Sie mit der Maus über die Regionen, um die genauen Werte zu sehen.
Nur elf offiziell unterversorgte Bereiche in Deutschland? "Das kann natürlich nicht stimmen", sagt auch Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte der Bertelsmann-Stiftung. Für ihn ist der Versorgungsgrad als Maßstab weit von der Realität entfernt. Die Stiftung hat deshalb einen eigenen Bedarfsindex ermittelt. Demnach sind rund achtmal mehr Bereiche deutlich unterversorgt als bei der offiziellen Berechnung.
Die endgültige Entscheidung, ob zu wenige Hausärzte in einem Planungsbereich niedergelassen sind, trifft der jeweilige Landesausschuss aus Vertretern von Ärzten und Kassen. Wird die Unterversorgung offiziell festgestellt, ist das mehr als nur eine Formalie. Es ist die Voraussetzung dafür, dass der Arztmangel auch vor Ort mit Geld aus sogenannten Strukturfonds bekämpft werden kann.
Drohende Unterversorgung ignoriert
Wo es heute noch genügend Hausärzte gibt, kann es in wenigen Jahren schon zur Unterversorgung kommen - unter anderem, weil durch die alternde Bevölkerung mehr chronisch Kranke in den Regionen leben werden. Doch einige der 17 kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland weigern sich, selbst diese drohende Unterversorgung zu erkennen. Sie verweisen darauf, dass sie vor Ort am besten wüssten, wo Unterversorgung besteht - und verlassen sich offenbar blind auf den Indikator Versorgungsgrad. "Wir schauen erst ab einem Versorgungsgrad von 75 Prozent hin", bestätigt zum Beispiel ein Sprecher der KV Westfalen-Lippe.
Dabei ignorierten die KV eine in Zukunft drohende Unterversorgung häufig, kritisiert der Sachverständigenrat in seinem jüngsten Gutachten. Tatsächlich zeigt die Übersicht darüber, wo Unterversorgung festgestellt oder als drohend erkannt wird, dass nur wenige KV in die Zukunft blicken. In der interaktiven Karte sind die entsprechenden Regionen gesondert hervorgehoben ("unterversorgt" / "drohend unterversorgt").
Experten gehen davon aus, dass sich der Landarztmangel eher verschärfen wird. Lediglich jeder zehnte Medizinstudent ist laut einer Umfrage noch sehr an einer Weiterbildung zum Allgemeinmediziner interessiert. Gleichzeitig fürchten die Krankenkassen den "Seehofer-Bauch". So nennt man die vielen Ärzte, die bei der Einführung der Bedarfsplanung unter dem damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer neue Zulassungen erhielten - und in den kommenden Jahren gleichzeitig das Rentenalter erreichen werden.
Mehr Geld für die Forschung
An der Bereitschaft, Geld in das Hausarztsystem zu pumpen, mangelt es indes nicht. Rund acht Milliarden Euro kostete die hausärztliche Versorgung 2013 in Deutschland. Tendenz steigend. Für das kommende Jahr haben sich Kassen und Ärzte auf zusätzliche 132 Millionen Euro für die Hausärzte geeinigt. Geld, das dringend benötigt wird - auch um den Beruf attraktiver zu machen.
Gesundheitsminister Gröhe will weitere Fördermöglichkeiten bereitstellen. Mit dem Geld sollen etwa neue Niederlassungen gefördert, Umsatzgarantien für selbstständige Ärzte gezahlt oder - wie in Sachsen-Anhalt - ganze Praxen betrieben werden.
Die vielleicht wichtigste Maßnahme in seinem Gesetzentwurf versteckt sich aber hinter dem Begriff "Innovationsfördertopf". Daraus soll die in Deutschland chronisch unterfinanzierte Versorgungsforschung mit 300 Millionen Euro gefördert werden.
Ein guter Anfangspunkt für die Forscher wäre eine neue - und vor allem bundesweit einheitliche - Definition des Begriffs "Unterversorgung".
Update, 10.40 Uhr: Auf Anregung eines Lesers haben wir einen Absatz zum Bundeswehrstandort Munster ergänzt. Besten Dank!
Update, 22. Januar, 11.50 Uhr: Im Artikel hieß es ursprünglich, die Unterversorgung sei ein Kriterium für die Vergabe der neuen Fördermöglichkeiten. Dies ist nicht der Fall. Wir haben den Fehler behoben und bitten, ihn zu entschuldigen.