Leben nach Amputationen "Für einen Parkausweis müssen schon beide Beine fehlen"

Carla Pöschl erlebt einen Albtraum: Nach einem medizinischen Routineeingriff werden ihr beide Beine amputiert. Seither kämpft sie bei Krankenkassen für sich und andere Betroffene um bessere Prothesen.
Von Claudia Kabel
Carla Pöschl mit ihrer Beinprothese

Carla Pöschl mit ihrer Beinprothese

Foto: Claudia Kabel

Als Carla Pöschl 2008 nach einem Routineeingriff am Darm Tage später aus dem Koma erwacht, fehlen ihr beide Beine. Bei der Operation sei die Darmwand zerstochen worden, erzählt sie. Pöschl wachte nicht aus der Narkose auf, es folgte eine Blutvergiftung (Sepsis), im Koma erlitt sie vier Schlaganfälle und einen Herzinfarkt. Ihre Beine starben dabei ab. "Daran gewöhnt man sich nie", sagt sie heute.

Seit sechs Jahren kämpft die ehemalige Flughafenmitarbeiterin nun vor dem Darmstädter Sozialgericht um Schadensersatz und um die Anerkennung von Rentenansprüchen. "Der Arzt hat eindeutig gepfuscht", ist die 58-Jährige überzeugt. Die Phantomschmerzen plagen sie täglich: "Es fühlt sich an, als würde ich mit meinen Beinen in glühenden Kohlen stehen." Die Gegenseite fordert immer neue medizinische Gutachten - das Verfahren läuft.

In Deutschland werden jährlich rund 60.000 Amputationen vorgenommen. Darunter fallen kleinere Eingriffe wie die Amputation von Zehen ebenso wie Amputationen von Füßen, Beinen, Händen oder Armen. Die untere Extremität ist deutlich häufiger betroffen als die obere. Nach Angaben der Deutschen Diabetes-Gesellschaft  sind allein 40.000 Amputationen die Folge von Diabetes.

Zwiespältige Gefühle

Trotz ihrer Schmerzen und des zehrenden Gerichtsstreits lässt Carla Pöschl sich nicht unterkriegen. Sie schöpft Mut aus dem Umstand, dass sie anderen helfen kann. Deshalb hat sie Agil (Amputierte ganz im Leben) gegründet. 21 Mitglieder zählt die Gruppe, die sich regelmäßig zu Gesprächen und Ausflügen trifft. Der Austausch untereinander lässt das Schicksal leichter ertragen.

Viele von ihnen kennen das zwiespältige Gefühl, wenn andere ihre Behinderung nicht entdecken. Einerseits sind sie froh, wenn keiner merkt, dass ihnen eine Gliedmaße fehlt, weil sie es durch Prothesen und Kleidung kaschieren können. Neugierige Blicke bleiben ihnen so erspart.

Andererseits fühlen sie sich oft hilflos. Etwa weil sie fürchten hinzufallen, ohne zu wissen, wie sie wieder aufstehen können. Oder weil Parklücken zu eng zum Aussteigen sind.

"Ich kann das Bein nicht krumm machen", sagt Irmhild Horneff auf einem Gruppentreffen im Darmstadt. Ihr fehlt ein Bein, das durch eine Prothese ersetzt ist. Ein Parkausweis für einen Behindertenparkplatz wurde ihr dennoch nicht genehmigt. "Da müssen einem schon zwei Beine fehlen", sagt sie mit vorsichtigem Blick auf Pöschl, die als Einzige in der Gruppe im Rollstuhl sitzt.

Eine Sportprothese, um den Krebs zu vergessen

Fast alle hier leiden unter Phantomschmerzen, viele sind oder waren mit ihren Prothesen unglücklich. Wie etwa Jerome. Er verlor mit 15 Jahren wegen eines Tumors sein linkes Bein. Mit der Prothese, die ihm über die Grundversorgung zustand, konnte er nicht mehr Fußball spielen, was er zuvor leidenschaftlich getan hatte.

Pöschl ließ das keine Ruhe: "Für seine Genesung war es gerade wichtig, auch Sport machen zu können, damit er den Krebs vergisst." Sie sammelte Spenden und verhalf dem heute 18-Jährigen zu einer Sportprothese. Kürzlich setzte sich die Agil-Gründerin für einen Asylsuchenden ein, der in Syrien bei einer Bombenexplosion ein Bein verlor. Die "08/15-Prothese, die er hier bekam, war sehr schlecht", urteilt Pöschl.

Das größte Problem sei, dass man nur schwer an Informationen komme, sagt Günther Meißner, seit 1961 beinamputiert. Carla Pöschl empfindet vor allem den "ständigen Kampf mit Krankenkassen, die bemüht sind, die Kostenübernahme von chipgesteuerten, also teureren Prothesen zu umgehen", als belastend. Oft führe der Weg vor Gericht.

"Jetzt kann ich ohne Krücken gehen"

In der Tat besteht nur ein Anspruch "auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung", sagt Claudia Widmaier, Sprecherin des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen, auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE. Freizeitbeschäftigungen gehören nach Definition der Krankenkasse aber nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Dennoch haben auch andere Teilnehmer der Gruppe schon eine bessere Versorgung vor dem Sozialgericht durchsetzen können.

Auch Carla Pöschl hat so jüngst die Versorgung mit besseren Prothesen erstritten. Denn ihr größter Traum ist, mit ihren beiden Enkeln, elf und vier Jahre, den Wald vor ihrer Haustür im hessischen Mühltal zu durchforsten. Mit dem mechanischen Ersatz aber, den ihr die Krankenkasse zuvor zubilligte, konnte sie nur mithilfe eines Gehbocks laufen - und das nur ein paar Schritte durch die Wohnung. Von chipgesteuerten Prothesen, die die Gewichtsverlagerung abfedern können und deren Benutzung sie weniger Kraft kosten würde, verspricht sie sich mehr Stabilität.

Doch selbst wenn die Kasse gewillt ist, eine moderne Prothese zu zahlen, müsse man an den richtigen Orthopädietechniker geraten, der sie anfertigt und anpasst, ist sich die Gruppe einig. "Ich kam vor sechs Jahren auf Krücken hier hereingelaufen", sagt die beinamputierte Barbara Brach. Erst auf Empfehlung der Gruppe habe sie das richtige Sanitätshaus gefunden und endlich eine passende Beinprothese bekommen: "Jetzt kann ich ohne Krücken gehen."

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