Vergessene Patienten Warum es so wenige Medikamente für Kinder gibt

Ein Mädchen blickt in den Arzneimittelschrank: Was hilft jungen Patienten?
Foto: CorbisDie Eltern wissen selbst nicht genau, ob die Dosis stimmt. Ihr herzkrankes Kind muss aber regelmäßig einen Blutdrucksenker einnehmen. Mit der Rasierklinge wird die Tablette am Küchentisch gedrittelt, die Brösel dann in den Brei gerührt und gefüttert. Eine Alternative gibt es nicht.
"Bei fast keinem Medikament reicht es, die Dosis eines Erwachsenenmedikaments einfach herunterzurechnen", sagt Bernd Mühlbauer , Pharmakologe aus Bremen. Gewisse Arzneimittel müssen Kindern zum Beispiel in einer zehnmal höheren Dosis gegeben werden, damit sie wirken - der kindliche Stoffwechsel unterscheidet sich grundlegend von dem der Großen, berichtet der Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie am Klinikum Bremen Mitte.
Wie viele Medikamente es gibt, die gut für Kinder geeignet sind, kann man nicht sagen, berichtet Mühlbauer, der dies in einer Studie untersucht hat. Die Hälfte der Pillen, die Kinder einnehmen, wurde demnach nicht für ihre Altersgruppe geprüft. Die Therapie erfolgt dann "off Label" - also ohne Zulassung. Das macht die Behandlung nicht selten zur Zitterpartie, erklärt der Pharmakologe.
Immer wieder kommt es zu Fällen, bei denen Kinder durch eine falsche Dosierung zu Schaden kommen, in schweren Fällen etwa erblinden. Umgekehrt kann es auch passieren, dass eine Behandlung wegen zu niedriger Dosierung unwirksam wird.
Doch die Zahl der Abnehmer eines Kinderarzneimittels ist, so wichtig dies im Einzelfall ist, vergleichsweise klein - ähnlich wie bei Medikamenten für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Experten schätzen den Anteil am Markt für Erwachsene auf gerade einmal drei Prozent - das lohnt sich für Pharmakonzerne nicht. Zudem ist die Durchführung der nötigen klinischen Studien sehr aufwendig.
Gesundheitsexperten der EU-Kommission haben bereits 2006 verschiedene Maßnahmen verabschiedet, um Pharmakonzerne dazu zu bringen, mehr geeignete Kinderarzneimittel zu entwickeln (Richtlinie 1901/2006 ). So wird der Patentschutz für neue, innovative Arzneimittel mit zusätzlicher Kinderzulassung um ein halbes Jahr verlängert, was für Hersteller einen Gewinn im durchaus sechsstelligen Bereich bedeuten kann. Werden alte, bewährte Medikamente in einem vereinfachten Verfahren auf die Tauglichkeit für Kinder getestet und zugelassen, ist diese Entwicklung zehn Jahre lang geschützt, kein anderer Hersteller darf auf dieser Basis ein eigenes Mittel entwickeln.
Der Erfolg ist dennoch ausgeblieben, sagt Wolfgang Rascher, Kinderarznei-Experte des Bundesinstituts für Arzneimittel (Bfarm). Wie konnte das passieren?
Gerade einmal zwei neue Medikamente
Die Pharmahersteller gewöhnten sich nur langsam an die zusätzliche Prüfung für Kinder, sagt Birka Lehman. Die Pharmaexpertin des Bfarm ist Mitglied des Kindermedikamenten-Ausschusses der EU. Bisher gäbe es rund 600 neue Pläne von Konzernen, Medikamente auch für Kinder zu testen.
Wenig erfreulich sei die Entwicklung bei der Nachzulassung bewährter Medikamente, sagt die Pharmakologin. Seit 2007 sind EU-weit gerade einmal zwei Medikamente für Kinder freigegeben worden. Damit gilt die Maßnahme unter Experten als gescheitert (weitere Informationen lesen Sie hier ).
Die freiwillige Forschung an Kinderarzneimitteln wird in Deutschland nicht unterstützt, sagt Edgar Kroth, geschäftsführender Wissenschaftler des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller . Die notwendigen Studien mit Kindern seien schwierig durchzuführen. Für Säuglinge müssen andere Studien gemacht werden als für Schulkinder. Zudem seien viele Erkrankungen bei Kindern glücklicherweise sehr selten, was aber den Anwenderkreis eines Arzneimittels begrenze. Dennoch brauche es Freiwillige, die an den vorgeschriebenen klinischen Studien teilnehmen.
Spezialmittel in falscher Kategorie
"Viele Eltern haben Vorbehalte gegen eine Teilnahme ihres Kindes an einer Studie", sagt Kroth. Das sei verständlich, mache zusätzliche Überzeugungsarbeit notwendig. Für Kinderstudien brauche es geeignete Prüfzentren mit speziell geschultem Personal und kindergerechten Räumlichkeiten. Das alles mache die Entwicklung eines Kinderarzneimittels sehr teuer. Und das lohnt sich für die Konzerne im aktuellen Pharmasystem nicht, sagt Kroth.
Wird ein neues Medikament speziell für Kinder zugelassen, fällt es im deutschen Pharmamarkt bisher unter die ganz normalen Regeln, es wird behandelt wie ein Erwachsenenpräparat - und entsprechend niedriger vergütet. Es kann sogar sein, dass ein Spezialkindermittel in eine Kategorie fällt, für die eine Krankenkasse einen Rabatt mit einem anderen Hersteller ausgehandelt hat. Dann verordnet der Kinderarzt vielleicht das Spezialmittel, der Apotheker gibt dann dennoch ein für Kinder nicht extra geprüftes Mittel heraus - weil es das für die Krankenkasse günstigere ist.
Was fordern die Experten?
Es brauche vor allem viel mehr Studien, die bestehende Arzneimittel auf ihre Tauglichkeit bei Kindern überprüfen - und das schnell. "Politik und auch die Gesellschaft sind gefordert, die Forschung zu unterstützen", sagt Fred Zepp von der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin .
Neu geprüfte oder zugelassene Kindermedikamente sollten ab sofort wie "orphan drugs" behandelt werden, sagt Bfarm-Präsident Karl Broich. So werden Arzneimittel gegen seltene Leiden genannt, die bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Krankheiten eingesetzt werden für die keine zufriedenstellenden Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Für diese Medikamente gelten geringere Zulassungsvorschriften, die Kosten werden komplett erstattet.
Mit diesem Schritt bestünde dann hoffentlich auch für die Pharmakonzerne endlich ein ausreichender Anreiz, Medikamente für Kinder bereitzustellen. Es sei nun an Politik und dem Gemeinsamen Bundesausschuss, dem höchsten Gremium aus Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen im Gesundheitssystem, diese Änderungen zu diskutieren, sagt Broich.
Zusammenfassung: Für Kinder und Jugendliche gibt es noch immer zu wenige geeignete Arzneimittel. Die europäische Kinderarzneimittel-Verordnung zeigt zwar bei neu entwickelten Medikamenten erste Fortschritte, doch bei der Nachzulassung bekannter Wirkstoffe für Kinder ist die Maßnahme gescheitert. Experten fordern, neue Arzneimittel für Kinder anders zu vergüten, damit sich die Entwicklung für Pharmakonzerne auch wirtschaftlich lohnt.