Kritik an Arzneimittelpreisen Umstrittener Ablasshandel mit der Pharmaindustrie

Arzneimittel: "Die absolute Mehrheit der Industrie will diesen Deal nicht"
Foto: Franziska Koark/ dpaEigentlich sollte vor der Bundestagswahl gesundheitspolitische Ruhe herrschen. Doch der neue Arzneiverordnungsreport (AVR) wirft unangenehme Fragen auf: Die Autoren kritisieren in ungewöhnlich scharfer Weise, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) "erhebliche Kosteneinsparungen verschenkt".
Denn der Chef dieses obersten Selbstverwaltungsgremiums im Gesundheitswesen, Josef Hecken, hat sich für einen Deal mit der Pharmaindustrie ausgesprochen. Für die Zahlung von etwa 1,5 Milliarden Euro jährlich wäre der G-BA bereit, auf die Preisregulierung bei alten Medikamenten verzichten. Auch die Krankenkassen halten das für "pragmatisch", das Bundesgesundheitsministerium bestätigt, dass bereits "Gespräche auf Fachebene laufen". AVR-Hauptautor Ulrich Schwabe meint dagegen, dass ohne den Deal "wesentlich größere Einsparungen erzielt werden können".
Bereits 2010 beschloss die jetzige Bundesregierung das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (Amnog). Es erlaubt dem G-BA, den Nutzen älterer Präparate des sogenannten Bestandsmarkts zu bewerten. Anschließend werden die Preise verhandelt (siehe Grafik).
Deutschland hat international mit die höchsten Preise
Verhandlungsbasis sollen die Arzneimittelpreise anderer EU-Staaten sein. Die AVR-Autoren sehen deshalb ein enormes Einsparpotential im Bestandsmarkt, weil Deutschland international mit die höchsten Preise hat. "Allein bei den ersten fünf umsatzstärksten Arzneimitteln lassen sich durch den exemplarischen Preisvergleich mit französischen Arzneimitteln Einsparungen von 414 Millionen Euro berechnen", schreibt Schwabe.
Doch der G-BA habe stattdessen etwa im April entschieden, Rheumamittel zu bewerten, dabei aber ausgerechnet das umsatzstärkste Präparat Humira nicht zu berücksichtigen. Eine Packung Humira kostet in Deutschland 4554 Euro, in Frankreich dagegen nur 3005 Euro.
"Es gibt keine plausible Begründung, warum gerade dieses Arzneimittel des Bestandsmarktes nicht zur Nutzenbewertung aufgerufen wurde", kritisiert Schwabe. So werde die Chance vergeben, bei gesetzlich Krankenversicherten in den nächsten fünf Jahren 600 Millionen Euro zu sparen. Dazu lässt Josef Hecken wissen: Das sei kein Versäumnis des G-BA, sondern liege vielmehr "an der Methodik und Systematik des Amnog". Eine Zusatznutzenbewertung eines als zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmten Arzneimittels sei nämlich von einer solchen Bewertung systematisch ausgeschlossen.
Ein Grund könnte sein, dass Hecken die Bewertung alter Medikamente am liebsten loswerden will. Mitten im Sommerloch machte er einen Vorschlag, der genau das nahelegt. Die "Ärztezeitung" berichtete im Juli von einer Veranstaltung in Deggendorf, bei der Hecken gesagt habe, er wolle "im Prinzip auf die Nutzenbewertung des Bestandsmarkts verzichten und dafür das Preismoratorium um zwei Jahre verlängern."
Dieses Preismoratorium, das die schwarz-gelbe Bundesregierung 2010 erfand, zwingt die Pharmaindustrie, den Krankenkassen einen Rabatt von 16 Prozent auf die Arzneimittelpreise zu gewähren. So sparen die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) nach Angaben des GKV-Spitzenverbands jährlich 1,5 Milliarden Euro. Die Einsparsummen im Bestandsmarkt seien jedoch deutlich höher als 1,5 Milliarden Euro, meinen die AVR-Autoren. Wenn Hecken nun vorschlage, den 16-Prozent-Rabatt über das Jahr 2013 hinaus zu verlängern und dafür auf die Bewertung alter Medikamente zu verzichten, verschenke er Millionen Euro der Krankenversicherten.
Aus Heckens Sicht hat der Ablasshandel den Vorteil, viel Arbeit und juristische Auseinandersetzungen mit Pharmakonzernen zu sparen. Schließlich fechten die Firmen in der Regel jede ungünstige Entscheidung vor Gericht an. Sein Vorgänger, der Jurist Rainer Hess, stellte sich diesen Auseinandersetzungen gern. Hecken, erst seit einem Jahr im Amt, kommt dagegen aus der Politik. Bis 2008 war er CDU-Gesundheitsminister im Saarland, anschließend Staatssekretär in Berlin. Er ist es gewohnt, Konflikte mit Kompromissen zu lösen.
Heckens Vorschlag hat offenbar große Chancen, verwirklicht zu werden - wenn auch erst nach der Bundestagswahl. Das Gesundheitsministerium teilt auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE mit: "Man wird sich zu gegebener Zeit unterhalten, wie der Rabatt weitergeführt wird", sagt Ministeriumssprecher Roland Jopp.
Jens Spahn, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion und einer der Anwärter auf den Posten des Gesundheitsministers nach der Wahl, sagt nur, dass er an der Bewertung des Bestandsmarkts "erst mal festhalten" wolle. "Entscheidend ist am Ende, dass wir im Interesse der Versicherten Medikamente nicht teurer bezahlen, als es eigentlich sein müsste", lässt Spahn mitteilen. Florian Lanz, Sprecher des Spitzenverbands der Krankenkassen, sagt zu Heckens Ablasshandel: "Wir halten dies als pragmatischen und unbürokratischen Weg für denkbar."
Auf Anfrage erklärt der G-BA-Chef: "Sympathie für diesen Weg findet man bei vielen pharmazeutischen Unternehmen." Zuvor hatte ihn die "Ärztezeitung" mit der Bemerkung zitiert, dass er aus Gesprächen mit den Firmen den "klaren und eindeutigen Eindruck" gewonnen habe, dass der Wirtschaft Planungssicherheit wichtiger sei als der Unsicherheitsfaktor des Bestandsmarktsaufrufs.
Tut man sich in der Pharmaindustrie um, hört man ganz anderes: "Die absolute Mehrheit der Industrie will diesen Deal nicht", sagt ein Insider. Von einem Verzicht auf die Bewertung des Bestandsmarkts würden nur diejenigen Unternehmen profitieren, die überteuerte ältere Präparate auf dem Markt haben. Der Zwangsrabatt treffe dagegen alle Firmen gleichermaßen. "Das ist ein politisches Spiel von Herrn Hecken, der die Überlastung seiner Behörde loswerden will."