Migräne Der lähmende Schmerz breitet sich in Wellen aus

Schuld an der Migräne scheinen fehlgesteuerte Kanäle auf den Nervenzellen zu sein. Ein ähnlicher Mechanismus sorgt vermutlich dafür, dass Betroffene die Attacke Stunden vor dem Kopfschmerz ahnen. Offenbar verarbeitet das Gehirn der Patienten äußere Reizen nicht korrekt.
Foto: Corbis

Es beginnt mit Blitzen in den Augen. Oder mit Heißhunger. Manchmal mit starker Unruhe: Bei jedem zehnten Patienten kündigt sich eine Migräneattacke mit einer sogenannten Aura an, die Stunden vor dem Anfall auftritt. Dann wissen die Betroffenen, dass bald starke Kopfschmerzen folgen werden, meist einseitig, meist pulsierend, begleitet von einer starken Überempfindlichkeit gegenüber Licht und Lärm. Vier bis maximal 72 Stunden wird die Migräneattacke das Leben der Patienten von da an im Griff haben.

Seit Jahrzehnten versuchen Wissenschaftler, die Entstehung der Migräneaura ebenso wie der Kopfschmerzattacken zu verstehen. Bei der Aura, so wissen Mediziner heute, werden die Nervenzellen der Hirnrinde wellenartig vom Hinterkopf bis hin zur Stirn erregt, mit einer Geschwindigkeit von drei bis fünf Millimetern pro Sekunde.

Zunächst erfasst die Welle vor allem den visuellen Bereich der Hirnrinde, deshalb sehen 90 Prozent der Patienten mit Aura plötzlich Blitze oder Funken, gezackte Linien oder milchige Schleier. Auf die Erregung der Nervenzellen folgt eine Hemmung für zehn bis zwanzig Minuten. "Dann leiden die Patienten an Sehstörungen, Sprachstörungen oder Lähmungen", sagt Hans-Christoph Diener, Leiter der Klinik für Neurologie des Uni-Klinikums Essen.

Die Störung ist lokalisiert

Inzwischen sind sich die Forscher weitgehend einig, dass eine genetisch bedingte Störung der Ionenkanäle an der Oberfläche von Nervenzellen die Aura wie auch den Migränekopfschmerz bedingt. Diese Kanäle vermitteln die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen. Sie sind bei Migränepatienten undicht, haben erste Studien gezeigt. Dadurch bewirken sie, dass sich mit der Zeit immer wieder spontane Erregungswellen in der Hirnrinde bilden.

Früher vermuteten Wissenschaftler, dass eine Erweiterung der Blutgefäße im Gehirn den pulsierenden Kopfschmerz der Migräneattacken auslöst. Überempfindliche Schmerzrezeptoren in den Blutgefäßwänden würden durch die Ausweitung gereizt, so die alte Hypothese. Und die Patienten erhielten Medikamente wie die Mutterkornalkaloide oder Triptane vor allem wegen ihrer gefäßverengenden Wirkung.

Eine aktuelle Studie im Fachmagazin "Lancet Neurology"  bestärkt jedoch die Auffassung, dass die Gefäßerweiterung für die Migränekopfschmerzen nicht entscheidend sein kann. Eine dänische Forschergruppe um den Neurologen Messoud Ashina des Dänischen Kopfschmerz-Zentrums in Glostrup hatte die Blutgefäße des Kopfes bei Frauen während einer Migräneattacke und in migränefreien Intervallen untersucht. Mit Hilfe eines speziellen Kernspintomogramms konnten sie beobachten, dass die Blutgefäße des Gehirns und der Hirnhaut während einer Attacke auf der Seite des Kopfschmerzes nur minimal erweitert waren, andere Blutgefäße des Kopfes überhaupt nicht. "Die Gefäßerweiterung ist wohl eher eine Folge des Kopfschmerzes als die Ursache", schreiben die Autoren der Studie.

Migränepatienten sind reizempfindlicher

Auch eine Entzündung gilt seit Jahren als möglicher Auslöser der Pein im Kopf. Botenstoffe des Immunsystems würden bei einer Migräneattacke freigesetzt, die Blutgefäße des Gehirns durchlässig machen und Entzündungszellen im Gehirn aktivieren. Dass diese Entzündung tatsächlich die Kopfschmerzen bedingt, konnte bislang jedoch nicht gezeigt werden.

Wirkstoffe, die gezielt die Folgen der Entzündung im Gehirn bekämpfen sollten, zum Beispiel in den Wänden der Blutgefäße des Gehirns oder der Hirnhaut, scheiterten bislang in klinischen Studien. "Womöglich gibt es diese Entzündung gar nicht", sagt Diener.

Doch Mediziner haben neuerdings beobachtet, dass das Gehirn der Migränepatienten nicht nur überaktiv ist. Es kann sich auch an kontinuierliche Reize nur schwer gewöhnen. So nehmen gesunde Menschen zum Beispiel das Flackerlicht einer Diskothek nach kurzer Zeit kaum mehr wahr; die Situation wird für sie immer erträglicher. Bei Migräne-Patienten dagegen geschieht das Gegenteil: Sie empfinden das unruhige Flackern als quälend, und ihr Leiden nimmt mit der Zeit weiter zu.

Was diese fehlende Gewöhnung bedingt, müssen die Wissenschaftler allerdings noch herausfinden.

Astrid Viciano
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