
Notfallmedizin: Das Prinzip der mobilen Retter
Innovationen aus der Medizin Der Smartphone-Rettungsdienst
In Deutschland dauert es durchschnittlich achteinhalb Minuten, bis der Rettungsdienst nach einem Notruf eintrifft. Das ist im internationalen Vergleich gut, für Patienten mit Herz-Kreislauf-Stillstand aber trotzdem fatal. "In den ersten Minuten sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit alle 60 Sekunden um zehn Prozent", sagt Clemens Kill, Leiter des Zentrums für Notfallmedizin am Universitätsklinikum Marburg.
Als besonders wichtig gilt deshalb die Mitarbeit der Bevölkerung. Doch "im internationalen Vergleich steht Deutschland bei der Tatkraft der zufälligen Ersthelfer miserabel da", sagt Kill. Wenn der Rettungsdienst kommt, haben nicht einmal in einem von fünf Fällen bereits Laien mit dem Reanimieren begonnen. In Skandinavien dagegen leisten in fast 70 Prozent der Fälle Angehörige oder Passanten diese wichtige Hilfe.
Umso wichtiger und beeindruckender ist das neue Projekt "Mobile Retter ", das im Kreis Gütersloh vor einigen Monaten erfolgreich gestartet ist: Geht dort in der Rettungsleitstelle ein Notruf ein, erreicht inzwischen oft nach zwei bis drei Minuten ein qualifizierter Ersthelfer den Patienten.
Helfer in der Umgebung mobilisieren
Möglich macht das letztlich eine Smartphone-App. Jeder, der eine medizinische Qualifikation hat - dabei reicht normalerweise, beruflich mit Gesundheit, Rettungsdienst oder Katastrophenschutz zu tun zu haben - kann sich die App herunterladen und ein mobiler Retter werden. Einmal eingeloggt, ortet sich das Handy und der Teilnehmer ist für den Computer der Rettungsleitstelle erreichbar.
Geht bei der Leitstelle ein Notruf ein, wird einerseits wie üblich der Rettungswagen alarmiert, der schnellstmöglich ausrückt. Parallel dazu prüft der Computer, ob ein oder mehrere mobile Retter in der Nähe des in Notlage geratenen Patienten sind. Ist dies der Fall, werden sie mit einem besonderen Ton auf ihrem Smartphone alarmiert. Sie können nun entscheiden, ob sie einsatzbereit sind oder nicht. Nimmt ein Helfer den Auftrag an, lässt er idealerweise alles stehen und liegen und ist wegen der räumlichen Nähe häufig vor dem Rettungswagen vor Ort.
Auf diese Weise wurde beispielsweise ein Patient mit Herz-Kreislauf-Stillstand reanimiert: Zwei Minuten, nachdem Passanten den Notruf abgesetzt hatten, konnte der mobile Retter die lebenserhaltenden Sofortmaßnahmen einleiten. Er reanimierte, bis ein paar Minuten später der Rettungswagen eintraf. Auch die Mutter eines fünfjährigen Kindes, das einen Krampfanfall hatte, erhielt rasch Unterstützung von einem mobilen Retter, der sich gerade in der Nachbarschaft aufhielt. Rund 200 weitere Einsätze haben die Teilnehmer bislang angenommen. "Solche Ersthelfer, die wirklich früher eintreffen, dürften das eine oder andere Leben retten", sagt Clemens Kill aus Marburg.
Angemeldet sind gut 350 mobile Retter - das ist etwa ein Tausendstel der Bevölkerung der Region, in der das System läuft. Sowohl die mobilen Retter als auch der gleichnamige Verein arbeiten ehrenamtlich. Die Motivation ist hoch. "Am Anfang hatten wir die App nur fürs iPhone programmiert, da haben mir die Leute fast die Türen eingerannt, dass wir auch eine Android-Version herausbringen", sagt Ralf Stroop, Notfallmediziner und Ingenieur und einer der Erfinder des Systems.
Retter sollten wissen, was zu tun ist
Um die Zahl der Teilnehmer zu erhöhen, könnte man die App nicht nur auf Menschen mit medizinischer Qualifikation beschränken, sondern für alle öffnen - also auch für Laien, die helfen wollen. Stroop glaubt allerdings, dass die Eingrenzung sinnvoll ist: "Dass ein mobiler Retter weiß, was er tun muss, ist extrem wichtig. Auch wenn die Teilnehmer alle eine medizinische Qualifikation haben, schicken wir sie noch einmal in eine kurze Schulung von ein paar Stunden mit den wichtigsten Sofortmaßnahmen", so Stroop.
Bei einem ähnlichen Projekt in Israel müssen die freiwilligen Helfer mehrmonatige Lehrgänge absolvieren, die insgesamt rund 200 Stunden dauern, bis sie zu den Ersthelfern gehören. Bei United Hatzalah, Vereinigte Hilfe, sind rund 2100 Freiwillige angemeldet, die im Jahr mehr als 270.000 Einsätze haben. Auch in Dänemark gibt es ein kleineres Smartphone-basiertes Helfersystem. Ansonsten existieren international nur wenige ähnliche Projekte.
Bei den mobilen Rettern in Gütersloh haben bereits einige Städte und Kreise angefragt, die an dem Modell interessiert sind. Laut Stroop wäre es nicht schwierig, das System in andere Regionen zu übertragen, vor allem komme es auf die Anpassung der Software der Rettungsleitstelle an. Stroop träumt schon davon, dass er in einigen Jahren mit seiner App in ganz Deutschland alarmiert werden kann, wenn ein Ersthelfer in der unmittelbaren Umgebung gebraucht wird.

Christian Heinrich ging nach seinem Medizinstudium auf die Deutsche Journalistenschule. Seit 2010 arbeitet er als freier Journalist in Hamburg. Neben Gesundheits- und Wissenschaftsthemen schreibt er auch über Wirtschaft und Gesellschaft, Reise und Bildung.Homepage Christian Heinrich