Ein rätselhafter Patient Nachts irrt er plötzlich umher

Ein Feuerwehrmann hat nachts Aussetzer - wandert orientierungslos umher, redet wirr, sieht verschwommen. Immer häufiger passieren diese Episoden, bis ihn endlich ein Freund ins Krankenhaus bringt.
Foto: Kemter/ Getty Images

Der Mann ist 30 Jahre alt, als es zum ersten Mal passiert: Er läuft orientierungslos durch sein Haus, kann die Bewegungen seiner Arme nicht kontrollieren und redet wirr. Immerhin kann er seiner Frau mitteilen, dass er alles nur verschwommen sieht. Eine halbe Stunde später ist der Spuk vorbei, der Mann erholt sich. An die Episode kann er sich nicht erinnern. Medizinische Hilfe sucht der US-Bürger nicht.

Vier Jahre verstreichen, dann passiert es erneut. Erst nur ein- bis zweimal im Jahr, dann häufiger. Schließlich hat der inzwischen 36-Jährige alle zwei bis vier Wochen solche Aussetzer. Meist ereignen sie sich nach Abenden, an denen er Bier getrunken hat. Phasenweise trinkt er pro Woche mehrmals je fünf bis sechs Bier, dann drosselt er seinen abendlichen Konsum auf zwei bis vier Bier. Doch die Aussetzer bleiben. Der Mann, der bei der Feuerwehr arbeitet, schiebt es auf Stress und geht weiterhin nicht zum Arzt.

Ein Freund bringt den Mann in die Notaufnahme

Eines Tages ist er völlig aus dem Häuschen, weil eine seiner Töchter krank ist. Seiner Frau kommt es vor, als sei er nicht er selbst. Wieder redet er Unsinn, seine Hände zucken. Er erholt sich etwas, nachdem er Abendbrot isst. Doch am folgenden Tag muss er sich morgens übergeben und ist danach den Tag über immer wieder phasenweise verwirrt. Dies bekommt ein Freund mit - und trifft endlich eine wichtige Entscheidung: Er bringt ihn in die Notaufnahme des Massachusetts General Hospital in Boston.

Im Krankenhaus angekommen, wirkt der Mann weiterhin verwirrt und aufgeregt. Er kann den Ärzten sagen, wie er heißt und wo er ist, weiß aber nicht, welcher Tag es ist. Aufmerksamkeit, Konzentration, Erinnerung und abstraktes Denken scheinen vermindert.

Der Patient hat einen leicht erhöhten Blutdruck. Temperatur, Herzschlag und Atemfrequenz sind normal. Er nimmt keine Medikamente, raucht seit 14 Jahren keine Zigaretten mehr und konsumiert keine illegalen Drogen. Vor 13 Jahren musste der Mann operiert werden, weil er an einer chronischen Entzündung der Speiseröhre litt. Vor elf Jahren hatte er infolge einer Stichverletzung im Bauchraum zudem eine weitere OP. Aber kann das seine aktuellen Probleme erklären?

Kaum Zucker im Blut

Ein Bluttest liefert eine Spur: Der Wert des sogenannten C-reaktiven Proteins ist erhöht, was unter anderem auf eine Entzündung deuten kann. Außerdem ist sein Blutzuckerspiegel viel zu niedrig - der Mann ist stark unterzuckert. Die Mediziner verabreichen ihm intravenös eine Zuckerlösung, um dies zu beheben. Sein Geisteszustand normalisiert sich daraufhin.

Ist der Blutzuckerspiegel zu niedrig, bekommen die Hirnzellen nicht mehr genug Nahrung - das erklärt die Symptome des Mannes. Unterzuckerungen können extrem gefährlich sein, weil sie auch das Herz-Kreislauf-System schädigen können, Betroffene können sogar ins Koma fallen.

Die Ärzte wollen herausfinden, warum der Mann anscheinend immer wieder unterzuckert ist, wie sie im Fachblatt "NEJM"  berichten. Dies kann generell eine Folge schwerer Krankheiten, etwa eines Leber- oder Nierenversagens sein. Aber so krank ist der Mann nicht, diese möglichen Ursachen fallen also weg. Auch Magersucht kann dahinterstecken, doch der Patient ist normalgewichtig und hat in den vergangenen Jahren kein Gewicht verloren. Ebenso ist Alkoholkonsum eine denkbare Ursache für Unterzuckerung - die Ärzte vermuten, dass bei dem Patienten Letzteres der Fall ist.

Wahrscheinlich stimmt etwas mit seinem Insulin-Haushalt nicht, nehmen die Mediziner an. Grundsätzlich sinkt der Blutzuckerspiegel, wenn die Bauchspeicheldrüse dieses Stoffwechselhormon ausschüttet. Denn Insulin sorgt dafür, dass Muskel- und Fettzellen Zucker aus dem Blut aufnehmen. Ist sehr viel Insulin in der Blutbahn, wandert der Zucker in größerer Menge in die Körperzellen - und der Zuckerspiegel im Blut sinkt gefährlich.

Bei manchen Menschen gerät die Insulin-Produktion aufgrund einer Autoimmunkrankheit außer Kontrolle. Auch ein gutartiger Tumor in der Bauchspeicheldrüse kann dazu führen.

Um herauszufinden, was bei dem 36-Jährigen der Fall ist, lassen die Ärzte den Patienten für mehrere Stunden fasten, messen seinen Blutzuckerspiegel und einige weitere Werte. Nach sechs Stunden geht es ihm deutlich schlechter, sein Geisteszustand ist wieder beeinträchtigt und der Blutzuckerwert ist deutlich abgesunken, weshalb die Mediziner das Fasten sofort abbrechen. Hinweise auf eine Autoimmunkrankheit finden sie bei weiteren Blutuntersuchungen allerdings nicht.

Spurensuche in der Bauchspeicheldrüse

Die Ärzte haben nun eine Idee: Könnte ein gutartiger, Insulin produzierender Tumor in der Bauchspeicheldrüse die Ursache sein? Das Team lässt Computertomografie- und Magnetresonanztomografiebilder vom Bauch des Patienten anfertigen. Klar erkennen können sie aber nicht, ob sich ein sogenanntes Insulinom in der Bauchspeicheldrüse befindet.

Erst eine Untersuchung des Organs mithilfe einer Ultraschallsonde vom Verdauungstrakt aus zeigt den Tumor. Die Ärzte entnehmen Gewebeproben und kurze Zeit später steht die Diagnose: Der Mann hat tatsächlich ein Insulinom. Dabei handelt es sich um einen gutartigen Tumor, der Frauen viel häufiger betrifft als Männer, viele Patienten sind etwa 50 Jahre alt. Warum das Insulinom bei dem Mann gewachsen ist, wissen die Ärzte nicht.

Die Chirurgen entfernen den Tumor aus der Bauchspeicheldrüse und der Mann erholt sich gut von dem Eingriff. Sein Blutzuckerspiegel pendelt sich auf einem normalen Niveau ein. Sieben Tage später kann er aus der Klinik entlassen werden. Die Ärzte warnen ihn davor, dass das Insulinom in den kommenden Jahren erneut wachsen kann - doch erst einmal geht es dem Patienten gut.

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