Transplantation Spendeausweis wegwerfen ist keine Lösung

Hinter verschlossenen Türen: Wer soll in Deutschland über Leben und Tod entscheiden?
Foto: Corbis"Ich hatte seit ungefähr 35 Jahren einen Organspendeausweis", schreibt ein Leser von SPIEGEL ONLINE, "jetzt ist er unwiderruflich im Papierkorb gelandet." Ähnlich misstrauisch reagieren in Deutschland derzeit viele Menschen auf die Manipulationen in Göttingen und Regensburg. Einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Nachrichtenagentur dpa zufolge glauben 69 Prozent der Bundesbürger sogar, dass man in Deutschland mit viel Geld ein Organ kaufen kann oder dies schneller bekommt.
Das Misstrauen ist verständlich, denn das Organspendesystem hat in einem elementaren Punkt versagt: Es hat Schlupflöcher für Manipulationen gelassen, wo höchste Transparenz erforderlich ist. Vertrauen ist die wichtigste Voraussetzung für Organspende. Der Staat aber zieht sich aus der Verantwortung. Er überlässt den gesamten Prozess von der Organentnahme über die Verteilung bis hin zur Transplantation Ärzten und privaten Stiftungen. Können diese die Verantwortung für die moralische und politische Frage über Leben und Tod allein tragen? Die Antwort lautet: nein.
Gesetzeswidrig handeln, um zu helfen
In Deutschland verfassen Mediziner die Richtlinien für die Entnahme und Vergabe von Organen, Eurotransplant verteilt die Organe und der Arzt im Transplantationszentrum entscheidet in letzter Instanz, ob ein Patient das angebotene Organ bekommt. Wenn aber Ärzte Ärzte kontrollieren, kann Subjektivität im Spiel sein. Dass ein Mediziner bestechlich ist, dürfte dabei die absolute Ausnahme sein. Von diesem schlimmsten Fall muss man gar nicht ausgehen, um anzunehmen, dass Organe nicht nur nach objektiven Kriterien verteilt werden. Eine Transplantation spült ganz legal viele zehntausend Euro in eine Klinikkasse. Je mehr operiert wird, umso besser verdient das Krankenhaus. Und desto größer wird das Ansehen eines Transplanteurs in seinem Kollegenkreis.
Doch es können auch moralische Gründe sein, die einen Arzt zu Fehlverhalten verleiten: Wer einen Patienten lange auf seinem Leidensweg begleitet und dabei zuschauen muss, wie es dem Kranken immer schlechter geht, dieser aber kein Spenderorgan bekommt, der handelt vielleicht auch aus einem anderen Grund gesetzeswidrig: um zu helfen. Doch wer dem einen hilft, schadet dem anderen, der auf der Warteliste zwar nur eine Nummer ist, in Wirklichkeit aber ein Mensch, der vielleicht auf der Intensivstation um sein Leben kämpft.
Transplantationsmediziner sind Mangelverwalter: Jeden Tag sterben in Deutschland drei Menschen, weil sie vergeblich auf ein Spenderorgan gewartet haben. Derzeit wendet die private Stiftung Eurotransplant eine Art Mischkalkulation an, nach der die Organe vergeben werden: Die Dringlichkeit spielt eine wichtige Rolle, Blutwerte und der Gesundheitszustand des Patienten, sein Standort und die Zeit, die er bereits auf der Warteliste steht. Weil aber ein zentrales, verpflichtendes Register fehlt, in dem alle Patientendaten ausgewertet werden, erfahren deutsche Ärzte nicht einmal, wie gut ihre therapeutischen Entscheidungen statistisch gesehen waren. Qualitätsmanagement? Fehlanzeige.
Den Spendeausweis wegwerfen?
Wer darf leben, wer soll sterben? Eine Frage, die unfassbar schwer zu beantworten ist - und doch beantwortet werden muss. Hier muss der Staat seine Verantwortung übernehmen und an der ethischen Entscheidung mitwirken. Auch wenn die Ärzte es gern weiterhin täten: Sie dürfen in Zukunft nicht mehr allein dastehen mit dieser Aufgabe. Es ist ein fadenscheiniges Argument, dass es in politischen Instanzen keine medizinische Kompetenz in Sachen Organspende gibt. Zählte diese Begründung, könnte es auch kein Luftfahrtbundesamt und kein Bundesamt für Strahlenschutz geben.
An einer unabhängigen Stelle müssen rechtsstaatliche Kompetenz mit medizinischem Fachwissen vereint werden. Jahrelang hat der Gesetzgeber am Transplantationsgesetz herumgedoktert und festgelegt, dass die Organvergabe nach Dringlichkeit und Erfolgsaussichten erfolgen soll. Versäumt hat er aber, eine Behörde einzurichten, die den Ablauf einer Spende und einer Transplantation bestimmt und kontrolliert.
Das neue Transplantationsgesetz, das für mehr Organspendebereitschaft sorgen will, verkommt in wichtigen Details vor dem Hintergrund der Skandale zur Farce. In Kürze werden die Krankenkassen damit beginnen, Organspendeausweise zu verschicken und die Versicherten zu bitten, ihren Willen zu dem Thema zu dokumentieren. Laut dpa-Umfrage hat aktuell fast die Hälfte der Bundesbürger Bedenken, sich als Organspender zur Verfügung zu stellen.
Ich behalte meinen Ausweis. Meine Organe können Leben retten, egal ob das der Nummer eins oder der Nummer 20 auf der Warteliste. Krank und verzweifelt sind sie alle. Der Großteil der Mediziner arbeitet hart für eine gerechte Verteilung. Nur die Maßstäbe, was gerecht ist, die müssen an anderer Stelle gesetzt werden.