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Otokonien: Kristalle im Ohr

Foto: Leif Erik Walther

Kristalle im Ohr Verirrte Steinchen erzeugen Schwindel

Und plötzlich dreht sich alles: Schwindel kann harmlos sein, doch es gibt auch hartnäckigere Fälle. Forscher sind einer möglichen Ursache jetzt auf die Spur gekommen.

Schwindelattacken kommen häufig in der Nacht: beim Drehen und Umlagern im Bett. Aber auch nach schnellem Hinlegen oder Aufstehen, wenn der Kopf dabei bewegt wird, kann es einem kurz schwindelig werden. Schwindel ist ein weit verbreitetes Phänomen, vor allem bei älteren Menschen: Jeder Dritte über 70 wurde schon einmal von Schwindel geplagt. Häufig kommen die Schwindelattacken in der Nacht

"In der Regel hält der Schwindel nicht länger als eine Minute an", sagt Leif Erik Walther von der Universitäts-HNO-Klinik Mannheim. Oft heilt er von selbst - die Beschwerden müssen nicht behandelt werden.

Doch es gibt auch hartnäckigere Fälle dieses sogenannten gutartigen Lagerungsschwindels: Ohrsteinchen, Otokonien genannt, können in die Bogengänge des Gleichgewichtsorgans hineinrutschen. Etwa bei einem Schlag gegen den Kopf, bei Innenohrerkrankungen oder - wie eine Forschergruppe nun bestätigt hat - weil sie im Alter langsam zerbröseln.

Otokonien sind Tausendstel Millimeter kleine Kristalle, die sieben Tage nach der Geburt komplett ausgereift sind. Sie wirken im Kopf wie träge Massen: Werden die Steinchen beschleunigt, weil wir beispielsweise den Kopf drehen oder morgens aufstehen, dann wird das an das Gehirn weitergemeldet. Es entsteht eine Orientierung im Raum.

Verirrte Steinchen

Um die verirrten Steinchen wieder aus den Bogengängen herauszuholen, gibt es sogenannte Befreiungsmanöver. Bei diesen Bewegungsübungen werden die Patienten unterschiedlich gelagert. Die Richtungswechsel und die Beschleunigungskräfte, die dabei auf die Bogengänge wirken, sorgen dafür, dass die ausgebüxten Ohrsteinchen wieder herausgespült werden.

Lässt man die Betroffenen danach rasten bis der Schwindel endgültig abgeklungen ist, hat man die meisten von ihren Beschwerden befreit. Schwieriger wird es für den Arzt, wenn die Körnchen in mehrere Bogengänge gleichzeitig schlüpfen.

Das Gleichgewichtsorgan des Menschen besteht aus drei Bogengängen, die senkrecht aufeinander stehen. Die verdickten Schäfte dieser Gänge enthalten den Ohrenstaub, der in flüssigkeitsgefüllten Kissen schwimmt und durch Fibrillen in Position gehalten wird. Sinneshärchen, die in die Kissen hineinragen, melden dem Gehirn, in welche Richtung die an den Fibrillen hin- und herzerrenden Ohrsteinchen beschleunigt werden, wenn wir etwa den Kopf neigen oder drehen. Beim Lagerungsschwindel funktioniert dieses Zusammenspiel nicht mehr richtig.

Falschmeldungen an das Gehirn

Bis vor drei Jahren war völlig unklar, warum die Ohrsteinchen überhaupt in die Bogengänge geraten können. Forschungen an künstlichen Otokonien des Dresdner Materialwissenschaftlers Rüdiger Kniep vom Max-Planck-Institut für chemische Physik fester Stoffe lieferten aber Hinweise darauf, dass sich mit zunehmendem Alter das Mineral Kalzit zersetzt, aus dem die Otokonien bestehen. Dabei wird die Verankerung der Fibrillen zerstört. Je stärker sich das Kristallkörnchen auflöst, desto weniger können die Fibrillen es festzurren. Der Effekt: Falschmeldungen an das Gehirn, das Gleichgewichtsorgan funktioniert nicht mehr richtig, Schwindelanfälle.

Um Kniep und Walther bildete sich eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern aus der ganzen Republik und der Schweiz, die dem Phänomen auf den Grund gehen wollte. "Bis dahin führte das Thema Otokonien ein Schattendasein in der Wissenschaft", sagt Kniep. In zwei noch unveröffentlichten Studien konnten die Forscher nun eigenen Angaben zufolge nachweisen, dass die Ohrsteinchen, mit denen wir unser Gleichgewicht halten, tatsächlich mit der Zeit degenerieren.

Die Forscher vermuten, dass es zu den Abbauvorgängen kommt, weil sich der pH-Wert der Flüssigkeit ändert, die die Ohrsteinchen umspült. Das kann an bestimmten Innenohrkrankheiten liegen, aber auch an Medikamenten. "Genau wissen wir, dass zum Beispiel Antibiotika wie Gentamicin zu einer Schädigung der Otokonien führen", sagt Walther.

Das Forscherteam hofft, die Kalzit-Kristalle im Ohr irgendwann vielleicht mit einer Art Reparaturkit flicken zu können, so ähnlich wie man das mit Zähnen macht. Einen solchen hatte Rüdiger Kniep am Max-Planck-Institut entwickelt. Bei den Forschungen dazu, stieß er auf die Ohrsteinchen. Noch sei man zwar nicht so weit, sagt sein Kollege Walther. Kniep aber ist überzeugt davon, dass Reparaturen an Otokonien tatsächlich vorgenommen werden könnten. Erste Experimente dazu seien bereits am Laufen.

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