Alltag in Palliativstationen Es gibt keinen Tod erster Klasse

Pfleger und Kranker: Schwerkranke suchen Palliativstationen immer später auf
Foto: Arno Burgi/ dpaWer die Station betritt, ahnt auf den ersten Blick nicht, dass die meisten Patienten, die hierherkommen, sie nicht wieder lebend verlassen. Im weiten Gang hängen Bilder in kräftigen Farben. In einer Ecke steht eine Steel Drum für die Musiktherapie, in der nächsten ein Klavier. Die Palliativstation des Juliusspitals in Würzburg wirkt wie ein warmer, gemütlicher Ort. Für Angehörige der Sterbenskranken gibt es Wohnküchen, in jedem der 15 geräumigen Zimmer kann ein zusätzliches Bett für sie reingestellt werden.
Doch der Eindruck von einem friedvollen Tod in freundlicher Atmosphäre trügt: Hinter den Kulissen arbeitet das Personal an der Belastungsgrenze. Viele der Ärzte und Pfleger, die hier arbeiten, fühlten sich zunächst zur Palliativmedizin hingezogen, erzählt die Stationsleiterin Regina Raps. Sie schätzten hier das, was die Medizin in großen Teilen verloren hätte: das freundliche Miteinander des Personals, den ganzheitlichen Behandlungsansatz und die Möglichkeit, mehr Zeit mit den Patienten zu verbringen. Mittlerweile aber würden die Erwartungen enttäuscht.
"Am Anfang herrschte auf der Station Euphorie", sagt Chefarzt Rainer Schäfer, der die Station verantwortet. Übriggeblieben ist davon nicht viel, denn die Belastung des Personals nimmt ständig zu. Der Grund: Die Menschen, um die sich die Mitarbeiter kümmern müssen, sind immer kränker, sagt Schäfer. "Vor zehn Jahren kamen manche Patienten noch zu Fuß zu uns." Jetzt kommen sie schwerkrank auf Tragen - dann, wenn ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt.
Kürzlich starb die Hälfte aller Patienten an einem Wochenende
Die Folge: Der Tod kommt schneller und häufiger. Vor kurzem verstarb an einem einzigen Wochenende die Hälfte der Patienten auf der Station. Die Mitarbeiter haben kaum noch eine Chance, eine Bindung zu den Kranken aufzubauen. Und sie haben kaum noch Zeit, das Sterben ihrer Patienten zu verarbeiten.
Laut Schäfer haben die Patienten zunehmend mehrere Leiden gleichzeitig, wenn sie auf die Palliativstation kommen: Sie sind dement oder körperlich behindert und zusätzlich krebskrank. Oder sie haben psychische Probleme, kommen aus zerrütteten Familienverhältnissen. Vor kurzem, so erzählt es die Stationsleiterin Raps, wurde eine Mitarbeiterin von einem verzweifelten Patienten mit einem Stuhl bedroht. Eine Nachtschicht später versuchte einer der Patienten, sich das Leben zu nehmen.
Auch Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gessellschaft der Palliativmedizin (DGP) , sieht eine Zunahme von besonders schweren Fällen auf deutschen Palliativstationen. Genaue Zahlen gibt es noch nicht, sie werden derzeit ermittelt.
Die Ursachen dafür sind jedoch vielfältig. Zum Teil ist es der Erfolg der Palliativmedizin selbst: In den vergangenen Jahren wurde der ambulante Dienst ausgebaut, so dass kranke Menschen so lange wie möglich zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung bleiben. Erst wenn es nicht mehr anders geht, kommen sie in eine Palliativeinrichtung. Einer aktuellen Umfrage zufolge möchte rund jeder Zweite zu Hause sterben. Die große Mehrheit wünscht sich, nicht allein zu sterben. Fast jeder Dritte will in einem Hospiz sterben.
Der vermeintliche Tod erster Klasse
Auch die zunehmenden Erwartungen von Patienten und Angehörigen seien eine Belastung, sagt Schäfer. "Die Medizin signalisiert, dass alles machbar sei", sagt er. Das schürt Hoffnungen. "Es gibt diesen Mythos vom friedlichen Sterben, vom Tod erster Klasse. Doch den gibt es nicht", sagt Schäfer. Ein Dilemma: Werde das vermeintliche Versprechen nicht eingehalten, würden die Angehörigen mitunter aggressiv, sagt Raps.
Um mit dem Stress umzugehen, versuchen die Mitarbeiter eine besondere Teamkultur aufzubauen. Es gibt Beratungen, ein Trauerritual, gemeinsame Theaterbesuche und einen Gottesdienst. Doch das reicht nicht. 2001 wurde die Station gegründet, nach spätestens sechs Jahren seien zwei Drittel des Personals wegen Überlastung ausgestiegen, sagt Schäfer. Viele hätten eine Depression bekommen und arbeiteten mittlerweile in ganz anderen Bereichen. Rund zweihundert Bewerbungsgespräche musste Regina Raps in den vergangenen Jahren führen, um die freien Stellen für Pfleger zu besetzen.
Pfleger halten nur ein paar Jahre durch
"Die Situation in Würzburg ist typisch für Deutschland", sagt Ernst Engelke, emeritierter Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Würzburg. Engelke wird auf die Station des Juliusspitals gerufen, wenn es besonders schwere Probleme mit Patienten oder Angehörigen gibt. Er bildet Ärzte und Pfleger für die Palliativmedizin aus. Länger als ein paar Jahre könne kaum einer diesen Beruf ausüben, das liege an der ständigen Konfrontation mit dem Tod.
"Man hat es ständig mit irreparablen Schicksalen zu tun und bezieht alles auf sich", sagt Engelke. "Man fragt sich: Was ist, wenn auch ich mich mit meiner Familie nicht versöhnen kann, oder von meinen Kindern verlassen werde und einsam sterben muss?" Hinzu käme die Überlastung der Stationen. "Was wir gerade erleben, ist eine Perversion, Menschlichkeit ist nicht mehr gewährleistet", sagt Engelke. Die Mehrheit der Gesellschaft werde auf Kosten des Pflegepersonals entlastet.
Seit gut drei Jahrzehnten setzt sich Engelke für ein würdevolles Sterben ein, jetzt fordert er ein Umdenken: "Es sollte entweder keine Palliativstationen mehr geben, oder alles sollte Palliativstation werden." Als Vorbild sieht er Krankenhäuser, in denen die Palliativarbeit nicht auf einer gesonderten Abteilung stattfindet, sondern Teil des Klinikalltags ist. So werde die Last, Sterbende zu betreuen, auf alle verteilt.
Engelke ist Pionier der Hospizbewegung in Deutschland. Diese war einst eine Reaktion auf entwürdigendes Sterben in Krankenhäusern. Eine Reaktion etwa auf jene Praxis, Patienten zum Sterben ins Bad zu schieben. Engelke sagt, dass aus den Bädern jetzt ganze Stationen geworden sind.