Arzneiverordnungsreport 2019 "Die Hersteller können Fantasiepreise nehmen"

Teure Tabletten: "Ich befürchte, dass viele Krankenkassen Angst vor der Konkurrenz haben"
Foto: Anfisa Kameneva/ EyeEm/ Getty ImagesSPIEGEL: Die Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung haben 2018 mit 41,2 Milliarden Euro mal wieder einen neuen Höchststand erreicht. Werden die Kosten für Medikamente irgendwann das Budget der Krankenkassen sprengen?
Ulrich Schwabe: Der neue Arzneiverordnungsreport zeigt, dass das schnell passieren könnte, wenn man nicht aufpasst. Zum Beispiel mit der neuen Therapie mit einem monoklonalen Antikörper, die zur Vorbeugung von Migräne entwickelt wurde. Im neuen Arzneiverordnungsreport haben wir uns die Verschreibungszahlen des ersten Medikaments dieser Art, Erenumab, angesehen. Es ist mit durchschnittlichen Behandlungskosten von etwa 12.500 Euro pro Jahr rund 200-mal teurer als die bisherigen Prophylaktika. Inzwischen sind sogar noch zwei weitere Mittel dieser Art auf den Markt gekommen, Fremanezumab und Galcanezumab.
Ulrich Schwabe, 84, ist Pharmakologe und Herausgeber des jährlich erscheinenden Arzneiverordnungsreports, in dem die Wirtschaftlichkeit von medikamentösen Therapien beurteilt wird.
SPIEGEL: Aber ist es nicht ein Segen, wenn verzweifelten Migränepatienten nun endlich geholfen werden kann?
Schwabe: Natürlich. Für die 14.000 bis 15.000 Patienten in Deutschland, die auf keine der fünf bislang verfügbaren vorbeugenden Therapien ansprechen oder sie nicht vertragen, hat die Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses einen beträchtlichen Zusatznutzen für eine Therapie mit Erenumab ergeben. In dieser Gruppe kann die neue Therapie die Migränezeit im Monat um durchschnittlich 3,2 bis 3,7 Tage vermindern im Vergleich zu einem Placebo, das mit 1,8 Tagen auch schon recht gut wirkt. Die knapp 200 Millionen Euro, die die Behandlung in dieser Patientengruppe kostet, sind also vertretbar.
SPIEGEL: Wo liegt dann das Problem?
Schwabe: Erenumab wurde von der Europäischen Arzneimittelagentur uneingeschränkt für alle Patienten mit mindestens vier Migränetagen pro Monat zugelassen. Würden alle diese 2,43 Millionen Menschen in Deutschland mit Erenumab behandelt, entstünden jährlich unvorstellbar hohe Kosten von über 30 Milliarden Euro - obwohl für die allermeisten dieser Patienten völlig unklar ist, ob sie von dem Medikament überhaupt profitieren. Selbst wenn nur fünf Prozent dieser Patienten Erenumab bekämen, würde das immer noch 1,5 Milliarden kosten.
SPIEGEL: Kann man da nichts machen?
Schwabe: Doch, natürlich. Der Gemeinsame Bundesausschuss könnte zum Beispiel bestimmte Patientengruppen von der Verordnung ausschließen. Darum haben die Hersteller sogar gebeten, aber der Gemeinsame Bundesausschuss hat das abgelehnt. Es könnte ein Erstattungsbetrag mit dem Hersteller vereinbart werden, der sich an einem Mischpreis aus Erenumab und den bisherigen Therapien orientiert. Das wären in diesem Fall dann aber nur ein bis zwei Prozent des bisherigen Preises - ich kann mir nicht vorstellen, dass die Hersteller sich darauf einlassen. Oder die Krankenkassen könnten mit den Kassenärztlichen Vereinigungen sogenannte Strukturverträge abschließen, in denen eine evidenzbasierte und damit in diesem Fall auch kostensparende Behandlung vereinbart wird.
SPIEGEL: Halten Sie eine dieser Möglichkeiten für realistisch?
Schwabe: Ich befürchte, dass viele Krankenkassen Angst vor der Konkurrenz haben und deshalb einfach versuchen werden, schnell Rabattverträge mit den Herstellern der neuen Medikamente abzuschließen. Das ist aber eine vergleichsweise sehr teure Lösung. Für mich sind diese Rabattverträge reines Marketing von teuren Arzneimitteln.
SPIEGEL: Auch die Krebstherapie wurde in den letzten Jahren immer teurer. Hat sich dieser Trend im neuen Arzneiverordnungsreport bestätigt?
Schwabe: Oh ja. Im vergangenen Jahr wurden rund sieben Milliarden Euro, also mehr als ein Sechstel der gesamten Arzneimittelausgaben, allein für Krebsmedikamente ausgegeben. Ein riesiges Problem, das ich da in den nächsten Jahren auf uns zukommen sehe, sind die Kombinationsbehandlungen. Schon als Einzeltherapie sind moderne Krebsmedikamente wie etwa monoklonale Antikörper oder Proteinkinaseinhibitoren extrem teuer. Wenn man jetzt anfängt, diese Mittel in der Behandlung miteinander zu kombinieren - so, wie es ja auch bei einer klassischen Chemotherapie Erfolge bringt - dann werden die Kosten ins Exorbitante steigen.
Für die Krebstherapie können Antikörper, die sich gegen ein bestimmtes Antigen einer Krebszelle richten, im Labor hergestellt werden - in unbegrenzter Menge. Diese baugleichen, von einer Zelle abstammenden Proteine nennt man monoklonale Antikörper.
Um die Vermehrung von Krebszellen zu unterbrechen und Tumorzellen zu zerstören, können außerdem die sogenannten Proteinkinase-Inhibitoren eingesetzt werden: Diese hemmen bestimmte Signalübertragungsketten im Inneren der Krebszellen, sodass etwa bestimmte Wachstumsreize nicht mehr weitergeleitet werden.
SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel?
Schwabe: Schon heute passiert genau das beim Multiplen Myelom, einer bestimmten Form von Knochenmarkskrebs: Weil dort eine Dreifachkombination moderner Medikamente helfen kann, wurden 2018 allein für die Therapie dieser Krebsart 687 Millionen Euro ausgegeben - eine Steigerung im Vergleich zum Vorjahr um über 16 Prozent.
SPIEGEL: Sollten wir uns nicht freuen, dass die Krebstherapie Fortschritte macht?
Schwabe: Natürlich darf keinem Patienten eine nachweislich wirksame Therapie aus Kostengründen vorenthalten werden - aber genau deshalb ist es ja so wichtig, das Geld der gesetzlichen Krankenkassen sinnvoll auszugeben und nicht einfach der Pharmaindustrie in den Rachen zu werfen. Ich finde es schlimm, dass viele gute Einsparmöglichkeiten, die wir hätten und durch die kein Patient weniger gut behandelt würde als jetzt, nicht ausgeschöpft werden.
SPIEGEL: Welche Einsparmöglichkeiten gäbe es denn noch?
Schwabe: Die größten Kostentreiber sind die neuen Medikamente, die noch einen Patentschutz haben. Und zwar nicht, weil sie so häufig verordnet werden, sondern weil sie immer teurer werden. Die Zahl der Verordnungen patentgeschützter Arzneimittel hat sich in den letzten 20 Jahren halbiert - ihr Umsatz hat sich trotzdem verdreifacht. Allein wenn wir die deutschen Preise für Patentarzneimittel am europäischen Markt orientieren würden, wo sie in der Regel sehr viel kostengünstiger sind, könnten wir deshalb jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro einsparen.
SPIEGEL: In Deutschland haben Medikamente im ersten Jahr nach der Markteinführung - also bevor der Gemeinsame Bundesausschuss die frühe Nutzenbewertung vornimmt - keine Preisbindung.
Schwabe: Die Hersteller können Fantasiepreise nehmen! Wenn die Firmen die zusätzlichen Einnahmen aus solch überteuerten Erstjahrespreisen nach der Nutzenbewertung zurückzahlen müssten, könnten wir jedes Jahr noch einmal 200 Millionen Euro sparen. Und wenn die Krankenkassen uralte, umstrittene Arzneimittel, zu denen zum Beispiel Homöopathika zählen, nicht mehr bezahlen würden, kämen noch einmal 500 Millionen Euro an Einsparungsmöglichkeiten dazu.
SPIEGEL: Bei den ersten teuren Biologika, die mithilfe von Gentechnik hergestellt werden und gegen Krebs und Rheuma eingesetzt werden, ist der Patentschutz bereits gefallen. Seither sind Nachahmerpräparate, sogenannte Biosimilars, auf dem Markt. Bieten Biosimilars nicht das größte Einsparpotenzial?
Schwabe: Insgesamt könnten wir mit Biosimilars jedes Jahr rund 1,2 Milliarden Euro sparen. Aber dieses Potenzial wird nicht ausgeschöpft. Bei den patentfreien Biologika entfallen weiterhin 75 Prozent des Umsatzes auf die Erstanbieterpräparate und nur 25 Prozent auf die deutlich preisgünstigeren Biosimilars.
SPIEGEL: Wie kann das sein?
Schwabe: 2018 ist beispielsweise der Patentschutz des umsatzstärksten Medikaments der Welt abgelaufen, des Antikörpers Adalimumab. Er wird bei rheumatoider Arthritis oder der entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn eingesetzt. Um den Biosimilars zuvorzukommen, hat der Hersteller einfach mit zahlreichen Krankenkassen Rabattverträge abgeschlossen. So ist Adalimumab zwar billiger als vorher, sodass die Ärzte es weiterverschreiben - aber wahrscheinlich immer noch 20 bis 30 Prozent teurer als ein Biosimilar. Riesige Einsparpotenziale bleiben so ungenutzt, das Geld fehlt an anderen Stellen des Gesundheitssystems.
SPIEGEL: Im Jahr 2000 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Pharmafirmen große Anreize bot, wenn sie Medikamente für seltene Erkrankungen wie etwa angeborene Enzymdefekte entwickelten, die zu Behinderung und Tod führen. Sind wenigstens diese sogenannten Orphan-Arzneimittel eine Erfolgsgeschichte?
Schwabe: Wenn man sich nur die Zahlen anguckt, ja. Seit dem Jahr 2000 sind ungefähr 180 solcher Medikamente zugelassen worden, von denen knapp 120 noch auf dem Markt sind. Allein 2018 waren unter 37 neu eingeführten Arzneimitteln 13 Orphan-Drugs.
SPIEGEL: Wo ist das Problem?
Schwabe: Nur die allerwenigsten dieser Orphan-Medikamente kommen wirklich Menschen mit schweren seltenen Erkrankungen wie angeborenen Enzymdefekten zugute. Stattdessen hat Big Pharma die Orphan-Drugs als lukratives Geschäftsfeld entdeckt und sich einen Trick ausgedacht: Mithilfe von Biomarkern werden eigentlich häufige Krankheiten, vor allem Krebserkrankungen, in so kleine Untergruppen aufgeteilt, dass sie zu seltenen Krankheiten werden. Man nennt das "Slicing" oder "Orphanisierung". Die Mittel werden dann nur für Patienten mit einer bestimmten Krebserkrankung zugelassen, die auch einen bestimmten Biomarker aufweisen.
SPIEGEL: Welche Vorteile hat das für die Unternehmen?
Schwabe: Orphan-Arzneimittel haben in jedem Fall zehn Jahre Patentschutz. Auch die Anforderungen bei der Zulassung sind offenbar geringer: Eine Untersuchung hat gezeigt, dass bei den zwischen 2000 und 2010 zugelassenen Orphan-Medikamenten nur in rund 60 Prozent der Fälle qualitativ hochwertige, randomisiert-kontrollierte Studien vorgelegt worden waren. Dafür lassen sich mit Orphan-Arzneimitteln sehr hohe Preise erzielen, diese Medikamente sind pro Tagesdosis im Durchschnitt 26-mal so teuer wie patentgeschützte Arzneimittel. 2018 haben die Orphan-Medikamente Kosten von 3,7 Milliarden Euro erreicht, knapp zehn Prozent der Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen für Arzneimittel. An der Situation von Menschen, die an seltenen angeborenen Gendefekten leiden, hat sich durch das Orphan-Arzneimittel-Gesetz dagegen kaum etwas verbessert. Dieses Gesetz muss deshalb dringend geändert werden. Die Art und Weise, wie es ausgenutzt wird, ist wirklich ein Skandal.