Ein rätselhafter Patient Sprachlos nach der Schwangerschaft

Einer bilingualen Britin verschlägt es nach der Geburt ihres Kindes die Sprache. Sie kann sich nicht mehr auf Englisch verständigen, auf Walisisch klappt es dagegen nach wie vor. Durch aufmerksame Detektivarbeit enträtseln Ärzte die Ursache.
Mutter und Kind (Symbolbild): Ist eine Blutung im Gehirn die Ursache? Ein verstopftes Gefäß?

Mutter und Kind (Symbolbild): Ist eine Blutung im Gehirn die Ursache? Ein verstopftes Gefäß?

Foto: Corbis

Die 39-jährige Britin kommt ins walisische Prince Philip Hospital, weil sie Schwierigkeiten mit ihrer Sprache hat. Die Frau ist als Kind zweisprachig aufgewachsen, sie spricht Walisisch und Englisch. Doch jetzt hat sie Schwierigkeiten, sich auf Englisch zu verständigen. Die Ärzte im Ysbyty Tywysog Philip , so der walisische Name des Krankenhauses in Llanelli, stehen zunächst vor einem Rätsel.

Die Beschwerden kamen plötzlich. Jetzt kann die Frau teilweise Sätze nicht mehr auf Englisch beginnen, teilweise kann sie angefangene Sätze nicht zu Ende bringen. Spricht sie dagegen Walisisch, hat sie kein Problem. Das berichten Sam Rice und seine Kollegen über den merkwürdigen Fall im Medizinjournal "The Lancet" .

Gesundes Kind, ereignislose Schwangerschaft

Sie befragen ihre Patientin, die ansonsten gesund ist. Erst sechs Monate zuvor habe sie ein gesundes Baby zur Welt gebracht, nach einer ereignislosen Schwangerschaft, erzählt sie. Lediglich eine Lethargie habe sie etwa drei Monate nach der Geburt überkommen. Diese habe sie aber auf die Schwangerschaft zurückgeführt.

Außer der Trägheit hat sie keine Symptome, kein Fieber, keine Kopfschmerzen. Ihr Blutdruck ist normal, ebenso das EKG. Die Ärzte untersuchen die Hirnnerven der 39-Jährigen, ihre Reflexe und wie sie sich bewegt. Anschließend überprüft ein ebenfalls zweisprachiger Arzt sehr genau die Sprachfähigkeiten der Frau: Tatsächlich leidet die Patientin unter einer Sprachstörung, sie findet im Englischen die Wörter nicht mehr und spricht nur zögerlich.

CT und MRT liefern keinen Krankheitshinweis

Die Ärzte befürchten eine Blutung oder ein verstopftes Gefäß im Gehirn, also einen Schlaganfall. Die Computertomografie (CT) aber zeigt nichts auffälliges, eine Magnetresonanztomografie (MRT) schließt Aussackungen der Arterien im Gehirn, Gefäßmissbildungen und Thrombosen der Hirnvenen aus. Mit Ultraschall überprüfen die Mediziner den Blutfluss in den Halsgefäßen - ohne Ergebnis.

Bei der Blutuntersuchung stoßen sie doch auf Auffälligkeiten, die mit der Sprachstörung zusammenhängen könnten. Das Hormon Thyroxin, ein Kontrollwert für die Schilddrüsenfunktion ist deutlich erniedrigt. Dafür ist ein Botenstoff, der die Produktion von Thyroxin antreibt, deutlich erhöht. Zudem entdecken die Mediziner einen Hinweis auf eine Schilddrüsenentzündung: Der Blutspiegel eines Antikörpers ist erhöht, der gegen verschiedene Eiweiße in der Schilddrüse gerichtet ist.

Kein Frösteln, keine Verstopfung, kein Kropf

Außer der Lethargie der Patientin waren den Ärzten bei der Untersuchung keine weiteren Merkmale aufgefallen, die typisch für eine Unterfunktion der Schilddrüse sind. Dazu gehören etwa ständiges Frösteln oder Verstopfung. Auch ein Kropf wäre ein deutliches Signal gewesen, der Hals der Patientin aber ist normal.

Die Hormonkonstellation bei der Patientin könnte auch für ein Problem der Nebenniere sprechen. Diese spielt bei der Kontrolle der Steuerhormone für die Schilddrüse eine entscheidende Rolle. Aber auch eine Fehlfunktion dieses Organs können die Mediziner ausschließen. Sie gehen deshalb davon aus, dass die Patientin an einer Thyreoiditis leidet, einer Entzündung der Schilddrüse. Sie behandeln die Frau mit Thyroxin, um die Schilddrüsenunterfunktion zu therapieren.

Sechs Wochen nach Behandlungsbeginn sind die Blutwerte der Schilddrüsenhormone wieder normal. Die Patientin ist weniger abgeschlagen - und sie spricht wieder fließend Englisch.

Einmalige Kombination

Das ungewöhnliche Phänomen, unter dem die Frau litt, ist selten, aber bekannt: Zweisprachige Patienten mit neurologischen Krankheiten wie zum Beispiel Schlaganfällen, Gehirnentzündungen oder Epilepsie können Probleme mit einer ihrer beiden Sprachen bekommen. Im Zusammenhang mit einer Schilddrüsenunterfunktion aber sei ein solcher Ausfall noch nie beschrieben worden, schreiben die britischen Mediziner im "Lancet".

Weil die Symptome nach der Thyroxin-Behandlung verschwanden, gehen die Ärzte aber davon aus, dass die hormonellen Probleme tatsächlich die Sprachstörung ausgelöst haben.

Zwischen fünf und zehn Prozent aller Mütter erkranken innerhalb des ersten Jahres nach der Geburt an einer Autoimmunthyreoiditis, also einer Entzündung, bei der sich das Immunsystem gegen die Schilddrüse richtet. Oft werden aber die Symptome wie etwa die Abgeschlagenheit nicht auf die Fehlfunktion der Schilddrüse, sondern auf Schwangerschaft und Geburt zurückgeführt.

Warum die Schilddrüsenunterfunktion bei der 39-Jährigen zu einer Sprachstörung führte, können sich die Ärzte nicht ganz erklären. Das Gehirn ist auf Schilddrüsenhormone angewiesen, neurologische Beschwerden sind bei Patienten mit einem Thyroxinmangel häufig und reichen von Gedächtnisschwierigkeiten bis zum Koma. Die Mediziner mutmaßen, dass die neuronalen Netzwerke, die für das Sprechen notwendig sind, durch den Hormonmangel gestört worden sein könnten.

Dass nur die englischen, nicht aber die walisischen Sprachfähigkeiten betroffen waren, könnte für eine Theorie der Zweisprachigkeit sprechen. Demnach werden unterschiedliche Sprachen in verschiedenen Regionen der Großhirnrinde gespeichert. Eine vollständige neurologische Erklärung für die Sprachstörung können die Ärzte aber nicht liefern. Ihr Fazit: Eine komplizierte, nicht verstandene Ursache.

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