Ein rätselhafter Patient Plötzlich Analphabetin

Kernspin-Aufnahmen der Patientin: Der dicke Pfeil zeigt auf den weiß erscheinenden Infarkt im linken Sehzentrum. Der dünne Pfeil deutet auf die Minderdurchblutung im unteren Teil des Balkens, der den Informationsaustausch zwischen den Gehirnhälften ermöglicht.
Foto: Neurology/ Wolters Kluwer HealthWenn die Frau jetzt Kinder sieht, die beim Vorlesen gespannt lauschen, treten ihr manchmal Tränen in die Augen. Sie vermisst es so, das Vorlesen, das Geschichtenerzählen aus Büchern. Jahrelang war die Amerikanerin die Lesetante im Kindergarten, um die sich alle scharten. Aber sie weiß, dass sie nie wieder vorlesen wird.
Alles beginnt ganz plötzlich an einem Donnerstagmorgen im Oktober. Die damals 40-Jährige will die Anwesenheit der Kinder im Kindergarten überprüfen. Aber der Zettel, den sie in den Händen hält, ist für sie ein Mysterium. Zwar sieht sie, dass Buchstaben darauf stehen, entziffern kann sie aber kein Wort. Sie versucht es mit einem anderen Zettel, auch darauf kann sie nichts lesen.
Panik macht sich in ihr breit. Ein weiteres Blatt liegt auf ihrem Tisch. "Halloween" steht darauf geschrieben, aber die Frau kann auch dieses Wort nicht lesen. Aufgeregt berichtet sie dem Leiter des Kindergartens von ihrem Problem. Der ist ebenfalls ratlos und schickt sie nach Hause.
"Ich bin am Ende"
Eine Nacht verbringt sie dort, dann will sie nicht länger allein sein und fährt zu ihrer Mutter. Als sie am nächsten Morgen dort aufwacht, fällt es ihr schwer, Wörter zu finden. Bemerkenswert aber ist: Alles was die Mutter sagt, kann sie gut verstehen. Und es gelingt ihr problemlos, selbst zu schreiben.

Gefäßdarstellung mit Kontrastmittel: Der dicke Pfeil zeigt den Verschluss der linken hinteren Hirnarterie. Die kleinen Pfeile zeigen Stellen der rechten Hinterhauptsarterie, die verengt und erweitert sind.
Foto: Neurology/ Wolters Kluwer HealthDie Frau bekommt immer mehr Angst und ist bald so verwirrt und aufgeregt, dass ihre Mutter sie in die Notfallaufnahme eines Krankenhauses bringt. Dort warten sie lange, bis ein Arzt die Patientin untersucht. Erschöpft von den unruhigen Stunden in der Notaufnahme geht die Mutter nach Hause und legt sich schlafen.
Kurze Zeit später klingelt ihr Telefon. Die Tochter ruft in den Hörer: "Ich bin am Ende. Es ist ein Schlaganfall."
Tatsächlich hat die 40-Jährige einen Hirninfarkt erlitten. Der liegt im hinteren linken Bereich des Gehirns, im Versorgungsgebiet der sogenannten Arteria cerebri posterior, der hinteren Gehirnarterie.
Wie die Neurologen um Jason Cuomo von der Loyola University Chicago in der Fachzeitschrift "Neurology" berichten , gehen sie davon aus, dass die Frau unter einer Entzündung der Gefäße leidet. Auf die Ursachensuche oder die Therapie gehen die Mediziner in ihrem Fallbericht nicht näher ein. Sie konzentrieren sich auf die Erklärung der Beschwerden.
Die Hinterhauptarterie der linken Seite versorgt unter anderem einen Teil des Sehzentrums mit Blut - und zwar vor allem den Bereich, der die Seheindrücke aus dem rechten Gesichtsfeld verarbeitet. Deswegen können Menschen mit einem Infarkt der Arteria cerebri posterior links häufig all das nicht sehen, was sich in ihrem rechten Gesichtsfeld befindet.
Die Seheindrücke aus dem linken Gesichtsfeld werden dagegen im rechten Hinterhauptslappen des Gehirns verarbeitet. Der funktioniert bei der Frau einwandfrei.
Beide visuelle Zentren sind allerdings über Nervenverbindungen mit dem Sprachzentrum verknüpft. Die Nervenfasern des rechten Sehzentrums ziehen im hinteren Teil des sogenannten Balkens zum Sprachzentrum in der linken Hirnhälfte. Das Problem der Patientin: Dieser Teil des Balkens wird von der hinteren Hirnarterie versorgt, weswegen die Struktur nicht ausreichend durchblutet wurde.
Buchstabe für Buchstabe ein Wort enträtseln
Der Befund erklärt, warum die Frau zwar Wörter verstehen und schreiben, aber nicht lesen kann: Das Sprachzentrum, das bei mehr als 95 Prozent aller Rechtshänder und mehr als 70 Prozent aller Linkshänder in der linken Gehirnhälfte liegt und von anderen Hirnarterien versorgt wird, ist bei der Frau intakt. Die Verbindungen von den visuellen Zentren aber sind durch den Verschluss der hinteren Hirnarterie unterbrochen.
Trotzdem gibt die Frau nicht auf. Sie schreibt sich Vokabelkarten, macht Schreibübungen, lässt sich Wörter vorsprechen. An ihrer Unfähigkeit zu lesen, ändert das alles nichts. Erst mit einer eigenen Methode schafft sie es, sich mühsam einzelne Wörter zu erschließen. Sie legt dafür den Finger unter den ersten Buchstaben eines Wortes und geht mit der anderen Hand ein Alphabet durch, bis sie dort den gleichen Buchstaben entdeckt. Steht dieser gleich an erster Stelle, weiß sie: Es ist ein A; steht er beispielsweise an der 13. Stelle, kann sie schlussfolgern, dass es ein M sein muss. So schafft sie Buchstabe um Buchstabe und kann oft nach der Hälfte des Wortes sagen, um welches Wort es sich handelt - das Verständnis für Wörter und Kontext ist schließlich ungestört.
Mittlerweile hat sich die Patientin mit der Einschränkung arrangiert. Sie arbeitet jetzt in der Rezeption eines Fitnessstudios. Das Lesen fehlt ihr nach wie vor, aber sie kommt im Alltag zurecht. Und auch wenn sie das Wort Halloween nach wie vor nicht lesen kann: Wie man Kindern an diesem Tag eine Freude macht, weiß sie noch immer genau.