Reizblase Was gegen das Tröpfeln hilft
In den unmöglichsten Momenten ist es am schlimmsten: Zwei Minuten vor dem Vorstellungsgespräch zum Beispiel muss man ganz dringend noch mal auf die Toilette. Oder wenn der Reisebus gerade den Parkplatz verlassen hat oder im Flugzeug die Anschnallzeichen für die Landung gerade angegangen sind. Die Blase reagiert nicht nur auf ihren Füllstand. Sie meldet sich auch, wenn der Mensch Stress hat, unter Druck steht, angespannt ist.
Eine Frage des Alters ist das nicht. Schon Kinder und Jugendliche kennen das Phänomen, das längst nicht immer zum Problem werden muss. Allerdings können sich tatsächlich Beschwerden entwickeln, Experten sprechen dann von einer nervösen Blase oder einer Reizblase. Bei ihrer Behandlung kommen zunehmend auch psychosomatische Ursachen in den Blick.
Annette Maleika, Chefärztin der Gynäkologie und Geburtshilfe am GRN Klinikum in Schwetzingen, berät in ihrer Blasensprechstunde Patienten mit einer sogenannten Dranginkontinenz, das ist das Fachwort für eine überaktive Blase. Daneben gibt es auch die Belastungsinkontinenz, die eher durch einen schwachen Beckenboden bedingt ist. Nicht selten verbergen sich hinter den Beschwerden ihrer Patienten seelische Ursachen wie Überlastung, Angst, depressive Verstimmungen, Stress oder Anspannung.
"Ein schulbares Organ"
Aber was hat die Blase mit der Psyche zu tun? Beide reagieren aufeinander, weil die Blase vom vegetativen Nervensystem und Zentren im Gehirn gesteuert wird. Von dort aus werden über Nervenbahnen und Neurotransmitter Signale an den Blasenmuskel und Beckenboden gesendet. Nervosität, Ängste, Belastungen können so dazu führen, dass der Mensch Urin verliert oder ständig den Drang verspürt, auf die Toilette zu gehen. Die Seele wählt, so drückt Maleika es aus, die Blase als Ventil.
Umgekehrt sind die Blasenprobleme selbst psychisch belastend für die Betroffenen. Viele schämen sich. Die gute Nachricht lautet aber: Sie müssen sich nicht damit abfinden. "Unsere Blase ist ein schulbares Organ", erklärt Maleika. Ein Verhaltenstraining und ein Ernährungscheck können als erste Interventionen schon Besserung bringen.
Bei einem Blasentraining führen die Betroffenen Tagebuch über Toilettengänge und Trinkmenge. Ärzte raten, die Abstände zwischen den WC-Besuchen immer ein bisschen zu vergrößern. Schon eine Viertelstunde hilft, die Blase zu stärken. Nach rund vier Wochen sollten sich messbare Erfolge zeigen.
Auch an der eigenen Ernährung lässt sich meist schrauben. Vor allem Kaffee reizt die Blase, erklärt Maleika, Zitrusfrüchte dagegen stärken sie. Frauen sollten auch ihren Östrogenspiegel im Blick behalten , denn das Hormon stabilisiert die Blasenfunktion.
Erzielen Patienten damit noch nicht den gewünschten Erfolg, verordnen Mediziner in einem nächsten Schritt sogenannte Parasympatholytika. Die Medikamente hemmen oder aktivieren über das parasympathische Nervensystem die Blasenfunktion. Auch Antidepressiva kommen zum Einsatz: Die Gabe von Serotonin hilft nicht nur bei Depressionen, der Botenstoff stärkt auch die Blasenfunktion.
Wieder mehr Lebensqualität
Die Urologin Daniela Schultz-Lampel, Direktorin am Kontinenzzentrum Südwest in Villingen-Schwenningen, berichtet von positiven Erfahrungen mit Botox-Injektionen in den Blasenmuskel: Die Botox-Spritzen hätten wenige Nebenwirkungen, müssten allerdings auch etwa alle sechs Monate wiederholt werden. Schultz-Lampel sagt: "Verlorene Lebensqualität durch eine nervöse Blase lässt sich in jedem Fall wiedererlangen."
Die Medizinerin hat bereits Patienten behandelt, die gar nicht mehr verreist sind, nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhren und in ihrem Beruf, beispielsweise als Kassiererin, Qualen litten, weil sie nicht alle zehn Minuten zur Toilette gehen konnten. Annette Maleika wiederum kennt Patienten, die sich wegen des ständigen Harndrangs nicht mehr trauten, einkaufen zu gehen.
In Berlin am Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus hilft Ralf Tunn Menschen mit überaktiver Blase durch ein Beckenbodentraining. Der Chefarzt der Klinik für Urogynäkologie überprüft zunächst durch Tasten oder mittels Ultraschall, ob ein Patient seinen Beckenboden anspannen kann. Gelingt dies nicht, aktiviert Tunn per Elektrostimulation die Wahrnehmung des Beckenbodens.
Kann der Patient schließlich den Beckenboden anspannen, übt er, die Blasenfunktion wieder selbst zu koordinieren. Dafür eignen sich zum einen gymnastische Übungen. Auch modernes Biofeedback-Training kommt zum Einsatz. Bei dieser Technik aus der Verhaltenstherapie lernt der Patient, seine Anspannung und Verkrampfung gezielt wahrzunehmen und bei Stress wieder loszulassen.
Um eben dieses Loslassen und einen besseren Umgang mit stressigen Situationen zu trainieren, sind auch Entspannungstechniken wie autogenes Training sinnvoll.