Rot-Grün-Sehschwäche "Im Straßenverkehr ist das ein Problem"

Mehr Männer als Frauen haben das Problem, rot und grün nicht auseinanderhalten zu können. Der Augenarzt Helmut Wilhelm von der Universität Tübingen erklärt, wann die genetische Sehschwäche im Alltag zum Problem wird.
Retina (Illustration): Rot-Grün-Schwäche hat wenig Auswirkungen auf den Alltag

Retina (Illustration): Rot-Grün-Schwäche hat wenig Auswirkungen auf den Alltag

Foto: Corbis

SPIEGEL ONLINE: Herr Wilhelm, wie häufig ist Rot-Grün-Schwäche?

Wilhelm: In Deutschland sind knapp acht Prozent der Männer betroffen. Frauen selten, nur drei pro tausend.

SPIEGEL ONLINE: Das liegt am Vererbungsweg?

Wilhelm: Genau. Die Gene für die Farbrezeptoren liegen auf dem X-Chromosom, von dem Männer nur eines haben und das sie von ihrer Mutter erben.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es eigentlich Männer, die gar nicht merken, dass sie rot-grün-schwach sind?

Wilhelm: Na klar. Ich kenne sogar einen Augenarzt, der Farbtests durchführte und erst dabei bemerkte, dass er selber betroffen war.

SPIEGEL ONLINE: Rot-Grün-Blindheit ist aber seltener, oder?

Wilhelm: Man muss hier genau unterscheiden. Totale Farbenblindheit, also Menschen, die nur schwarz-weiß sehen können, ist selten, etwa einer von Hunderttausend ist betroffen. Rot-Grün-Blindheit ist ein irreführender Begriff, denn entweder ist jemand blind für Grün oder für Rot. Dann kann er aber noch Farben sehen - nur ist seine Farbwahrnehmung deutlich verschoben. Auch Rot-Grün-Schwäche heißt: Jemand ist entweder sehschwach für Grün oder für Rot.

SPIEGEL ONLINE: Wie sieht die Welt eines Rot- beziehungsweise eines Grünblinden aus?

Wilhelm: Dazu drehen Sie bei Photoshop einfach mal den Rotkanal ganz dunkel oder den Grünkanal auf Grau, dann bekommen Sie eine vage Vorstellung davon. Rotschwache oder Rotblinde sind aber stärker betroffen als Grünschwache oder -Blinde, weil sie Rot dunkler sehen. Im Straßenverkehr ist das ein Problem, weil sie zum Beispiel Bremslichter schlecht wahrnehmen.

SPIEGEL ONLINE: Diese Farbschwächen werden schon bei Kleinkindern getestet . Was bringt das eigentlich?

Wilhelm: Im Kindergartenalter halte ich das für sinnlos. In der Schule ist es ganz gut, von der Farbbeeinträchtigung zu wissen.

SPIEGEL ONLINE: Was raten Ärzte den Eltern eines betroffenen Kindes?

Wilhelm: Man beruhigt sie und sagt ihnen, dass es nicht so schlimm ist. Die übliche Farbsehschwäche hat sehr wenig Auswirkungen im Alltag. Selbst im Fall totaler Farbenblindheit, Achromatopsie genannt, die nur bei einem von 100.000 vorkommt, können Betroffene ja in ihrem Leben so gut wie alles machen, sie können Richter werden oder SPIEGEL-Redakteur - nur den Führerschein dürfen sie nicht machen. Aber das scheint für manche Eltern schon ein sensibles Thema zu sein. Ich hatte einmal diesen Fall, da sind die Eltern in Tränen ausgebrochen, als ich ihnen sagte, dass ihr Kind wohl keinen Führerschein wird machen dürfen.

SPIEGEL ONLINE: Aber total Farbenblinde sehen doch die Lichter und wissen bei der Ampel, dass das oberste Licht Halt bedeutet!

Wilhelm: Natürlich könnte man auch schwarzweiß fahren. Das Problem ist aber, dass total Farbenblinde auch eine sehr schlechte Sehschärfe haben.

SPIEGEL ONLINE: Und das kann keine Brille korrigieren?

Wilhelm: Nein, die Brille korrigiert ja nur die Optik. Bei Farbenblinden ist aber sozusagen der "Kamerachip" defekt.

SPIEGEL ONLINE: Könnte man eine Farbsehschwäche nicht eventuell über farbige Kontaktlinsen ausgleichen?

Wilhelm: Ich halte das für überflüssig. Es funktioniert auch nicht wirklich gut.

SPIEGEL ONLINE: Rot-Grün-Schwäche oder -Blindheit wird über das mütterliche X-Chromosom weitergegeben. Kann man bei einer Mutter, die nur Überträgerin ist, nicht auch irgendwelche geringe Farbanomalien feststellen?

Wilhelm: Ja, kann man. Diese Frauen sehen unter Umständen Farben besser!

SPIEGEL ONLINE: Sie sehen Farben besser?

Wilhelm: Ja, weil sie zwei verschiedene Grün- oder Rotrezeptoren besitzen - den normalen auf dem einen X-Chromosom und den gestörten auf dem anderen. Das, so vermuten Wissenschaftler, könnte die Erklärung dafür sein, weswegen Rot-Grün-Schwäche evolutionär nicht schon längst ausgestorben ist. Diese Frauen waren die besseren Beerensammlerinnen!

SPIEGEL ONLINE: Es gibt eine Studie von 2005, in der behauptet wird, dass rot-grün-schwache Männer unter Umständen Khakitöne besser unterscheiden könnten und Tarnfarben bei ihnen nicht so wirksam seien. Der Grund: Sie hätten im Laufe Ihres Lebens gelernt, mehr auf Konturen zu achten als auf Farben.

Wilhelm: Das ist mir neu. Sie haben ja auch eine Farbsehstörung - würden Sie das unterschreiben?

SPIEGEL ONLINE: Keine Ahnung, ich habe Zivildienst gemacht.

Wilhelm: Ich übrigens auch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand mit einem gestörten Rezeptor besser sein soll als jemand mit einem intakten. Und ein Farbsehgestörter nutzt ja auch Farben zur Orientierung.

SPIEGEL ONLINE: Rot-Grün-Schwache dürfen manche Berufe nicht ergreifen. Können Sie ein Beispiel nennen?

Wilhelm: Die Polizei ist da sehr streng. Wer will schon einen Kommissar, der einen Verdächtigen fälschlicherweise mit einem grünen Mantel beschreibt. Auch in der Seefahrt ist die Farbwahrnehmung kritisch. Kapitäne müssen genau unterscheiden können, ob ein Schiff auf sie zukommt oder von ihnen wegfährt.

SPIEGEL ONLINE: Haben Rot-Grün-Schwache ansonsten visuelle Beeinträchtigungen, zum Beispiel in der Dunkelheit?

Wilhelm: Nein. Auch das räumliche Sehen ist ganz normal.

SPIEGEL ONLINE: Treten bei total Farbenblinden, für die die Welt buchstäblich grau ist, häufiger Depressionen auf?

Wilhelm: Nein. Sie haben die Welt ja nie anders gesehen. Auch vollständig blinde Menschen sind nicht häufiger depressiv als Sehende.

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