Schlechte Nachsorge "Wir müssen den Schlaganfall als chronische Erkrankung betrachten"

Probleme beim Sprechen, Bewegen, Fühlen oder Sehen: Jedes Jahr erleiden rund 260.000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall - meist durch den Verschluss eines Blutgefäßes im Gehirn, seltener durch eine Hirnblutung. Bei ihrer Akutbehandlung gilt Deutschland als vorbildlich.
"Die Versorgung hierzulande ist weltweit am besten", sagt der Neurologe Hans-Christoph Diener von der Universität Duisburg-Essen. Bundesweit gibt es inzwischen 320 Stroke Units. Diese Schlaganfallzentren sind so verteilt, dass sie schnell erreicht werden. Denn eine rasche Therapie entscheidet über die Prognose für eine Genesung.
Weniger vorbildlich ist die Betreuung der Patienten, nachdem sie aus der Klinik entlassen werden und in die hausärztliche Versorgung zurückkehren. "Wir haben den Schlaganfall zu lange nur als Notfall angesehen und nicht als chronische Erkrankung", sagt Heinrich Audebert, Leiter der Klinik für Neurologie am Campus Benjamin Franklin der Berliner Charité.
Schlaganfallpatienten haben erhöhtes Rückfallrisiko
Zweifellos ist ein Schlaganfall ein medizinischer Notfall: Laut Statistischem Bundesamt sterben daran jährlich fast 60.000 Menschen, in Deutschland zählt er zu den häufigsten Todesursachen. Patienten müssen möglichst schnell in ein spezialisiertes Zentrum gebracht werden. Dort können Experten die Ursache des Schlaganfalls erkennen und beheben, etwa indem sie einen Gefäßverschluss durch Medikamente auflösen oder die Blockade per Katheter entfernen.
Doch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ist die Gefahr nicht gebannt. "Wer einmal einen Schlaganfall gehabt hat, gehört zu einer Risikogruppe. Die Gefahr eines weiteren Hirninfarkts ist deutlich erhöht, vor allem in der frühen Phase", sagt Armin Grau, Direktor der Neurologischen Klinik am Klinikum Ludwigshafen und Vorsitzender der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DGS).
Überlebende eines ersten Schlaganfalls sind nach Angaben der DGS im Vergleich zu Gleichaltrigen etwa zehnmal gefährdeter, einen weiteren Schlaganfall zu erleiden. Drei bis vier Prozent haben einen Rückfall schon in den ersten zwölf Monaten. "Das Risiko sinkt zwar mit der Zeit, es bleibt aber dauerhaft etwas erhöht", sagt Grau.
Das ist umso erschreckender, als ein zweiter Schlaganfall bei den oft vorgeschädigten Betroffenen eine deutlich schlechtere Prognose hat als der erste. Einer neuen Studie zufolge tragen mehr als 60 Prozent der Menschen dann eine bleibende Behinderung davon, mehr als 20 Prozent sterben.
Dennoch fällt das Versorgungsniveau nach der Entlassung aus dem Krankenhaus oft ab. Experten führen dies auch auf die Betreuungsstruktur zurück: Nach der vorbildlichen Akutbehandlung in einer Stroke-Unit würden die Patienten bei der ambulanten Nachbetreuung weitgehend alleingelassen, obwohl viele von ihnen Behinderungen haben und auf Hilfe angewiesen sind.
Schlechte Verzahnung zwischen Krankenhaus und Hausarzt
Das liegt auch daran, dass die Versorgung durch ein Krankenhaus und die Betreuung durch niedergelassene Ärzte kaum miteinander verzahnt sind. Zwar bekommen die Patienten einen Bericht für den Hausarzt samt Medikamentenplan. Aber nicht alle halten sich dauerhaft an die Ratschläge.
"Viele Menschen sind nach einem Schlaganfall mit der Umsetzung der teilweise komplexen medizinischen Empfehlungen überfordert", sagt Audebert. "Sie könnten von einer intensiveren ambulanten Betreuung profitieren."
Dabei geht es um die Kontrolle jener Faktoren, die zu Schlaganfällen beitragen. Nach einer großen Studie berichteten Forscher 2016 im Fachblatt "The Lancet", dass zehn behandelbare Ursachen zu etwa 90 Prozent aller Schlaganfälle beitragen: Dies sind vor allem Bluthochdruck, Herzprobleme wie Vorhofflimmern und hohe Cholesterinwerte, aber auch eine Diabetes-Erkrankung, Übergewicht, Bewegungsmangel, schlechte Ernährung, Alkoholkonsum, Rauchen und Stress.
Würde man diese Faktoren konsequent angehen, ließe sich die Gefahr eines Rückfalls um etwa 80 Prozent senken, schätzen Experten übereinstimmend. "Solche Strategien helfen nachweislich, einen erneuten Schlaganfall zu verhindern", sagt Audebert. Nachsorge als Vorsorge also.
Dass Risikofaktoren nicht regelmäßig angegangen werden, zeigt eine Berliner Studie von Audebert: Darin waren ein halbes Jahr nach einem Schlaganfall wichtige Faktoren wie Bluthochdruck nicht einmal bei der Hälfte der Patienten ausreichend behandelt. "Die Menschen brauchen ein Unterstützungsprogramm und eine intensivere Betreuung", sagt Audebert.
In anderen Ländern funktioniert die Nachsorge besser
Besser ist die Langzeitversorgung etwa in den Niederlanden oder in Großbritannien. "Dort kriegen die Patienten bei der Entlassung einen Plan mit definierten Zielen wie etwa bessere Ernährung und einem Ziel-Blutdruck", erläutert der Essener Experte Hans-Christoph Diener. "Pfleger besuchen die Patienten dann regelmäßig Zuhause und gehen zusammen mit den Hausärzten die Checkliste durch. Das funktioniert sehr gut."
Ob und wie sehr Patienten in Deutschland davon profitieren würden, untersuchen derzeit verschiedene Projekte. Ähnlich wie in Großbritannien sollen in dem Vorhaben "Stroke OWL" in Ostwestfalen-Lippe Schlaganfall-Lotsen den Kontakt zwischen Klinik, Hausarzt und Therapeuten halten.
Einen etwas anderen Ansatz verfolgt die Studie "INSPiRE-TMS", die demnächst endet: Die Hälfte der knapp 2100 Teilnehmer bekam in den zwei Jahren nach der Entlassung aus dem Krankenhaus noch insgesamt acht ambulante Untersuchungstermine. "Wir haben bei jedem Termin Blutdruck, Blutzucker und Cholesterinwerte gemessen und auch die körperliche Fitness getestet", sagt Audebert.
Die Patienten bekamen den Untersuchungsbericht, und bei kritischen Werten kontaktierten die Mediziner direkt den Hausarzt, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Im kommenden Jahr soll feststehen, ob das Rückfallrisiko bei ihnen stärker sank als in der konventionell versorgten Kontrollgruppe.
Pilotprojekte sollen zeigen, ob Nachsorge das Risiko senkt
Das von dem Ludwigshafener Neurologen Grau koordinierte Projekt "Sano" startet Anfang 2019 in 15 Modellregionen zwischen Münster und Regensburg. Pro Region werden 100 Schlaganfallpatienten nach der Entlassung aus dem Krankenhaus von einem Netzwerk aus Fachärzten, Hausärzten und verschiedenen Therapeuten - etwa Physiotherapeuten, Logopäden und Psychotherapeuten - engmaschig betreut.
Das Angebot umfasst auch Ernährungsberatung, Kochkurse oder Sportgruppen. "Die Patienten sollen gemeinsam von Hausärzten, ambulanten Fachärzten und der Schlaganfallklinik an die Hand genommen werden", erläutert Grau. In 15 Kontrollregionen unterbleibt diese Unterstützung. Ergebnisse erwartet Grau bis Mitte 2021.
Letztlich soll die Betreuung nicht nur die medizinische Versorgung durch Ärzte und Therapeuten verbessern, sondern auch die Motivation der Betroffenen steigern. "Viele Patienten sind anfangs hochmotiviert", sagt Audebert, oft lasse der Eifer aber mit der Zeit nach. Wenn man ihnen den Erfolg der Prävention direkt vor Augen führe - etwa in Form verbesserter Blutdruckwerte oder größerer Fitness -, steigere das die Mitwirkung, sagt Audebert. "Wir wollen die anfängliche Motivation stabilisieren."
Experten warten nun gespannt auf Resultate dazu, ob und wie sehr eine bessere Nachsorge die Gefahr eines weiteren Schlaganfalls verringert. Wenn gezeigt werden kann, dass sich die Rückfallquote verbessert, könnte die Nachsorge künftig von den Krankenkassen bezahlt werden.
Video: Gehirn außer Kontrolle - Alzheimer, Aneurysma, Schlaganfall
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