Silberfische im Bad Invasion in der Nacht

Silberfischchen im Bad: Wärme und Feuchtigkeit stellen gute Bedingungen da
Foto: CorbisAls meine Freundin und ich noch getrennt wohnten, war der Besuch in ihrer Wohnung ein indianajoneskes Abenteuer. Ein halbherzig ausgebauter Dachstuhl, vom Vermieter natürlich alles selbst gezimmert, um die Rendite der Wohnung um eine Nachkommastelle hochzutreiben. Die Kacheln im Badezimmer hingen schon, als Helmut Schmidt seine Kanzlerschaft begann. Und sie blieben hängen, als Schmidt über den Nato-Doppelbeschluss stolperte, Helmut Kohl über die Spendenaffäre und Gerhard Schröder über die Hartz-Reformen.
Die Kanzler kamen und gingen. Aber die heimlichen Herrscher in diesem Badezimmer blieben die gleichen: die Silberfischchen. Während sie tagsüber die Menschen in Sicherheit wiegten, erwachte des Nachts ihr Königreich zum Leben.
Der Einzug der Silberfische
Die Bedingungen waren perfekt: Unter den einstmals eierschalenfarbenen Kacheln hatten die Schimmelpilze schon in den Achtzigern große Autobahnen errichtet. Die Heizungsrohre versorgten das Königreich mit nicht enden wollender Wärme, das nicht vorhandene Fenster und der nicht vorhandene Lüftungsabzug schafften eine primordiale Atmosphäre, wie sie vor Hunderten Millionen Jahren vorgeherrscht hatte, als das Silberfischchen-Königreich sich über die riesigen Kontinente der noch menschenfreien Erde erstreckte. Wo Silikonfugen aufgebrochen und der Putz abgebröckelt war, standen Wohnungen bereit, um bezogen zu werden. Aber das Beste: In ihrem Königreich regnete es Manna vom Himmel. Die Menschen warfen ihre Hautschuppen ab und machten die Silberfischchen groß und stark. Das einzig Blöde war: Schaltete ein Gott plötzlich zur Hautgeschäftszeit die Sonne an, hieß es die sechs Beine in die vier Fühler nehmen!
Nacht für Nacht, wenn ich aufs Klo musste, stand ich vor einem Dilemma: Licht auslassen, um gleich schön weiterschlafen zu können, dafür aber möglicherweise Silberfischchen unter meinen nackten Füßen zermalmen. Oder: Licht anschalten, Silberfischchen vor dem sicheren Tod bewahren (und mich vor einem Indiana-Jones-Erlebnis ), dafür aber nicht mehr einschlafen können.
Ich entschied mich a) für das Abenteuer im Dunkeln und b) für Schutzsocken.
Der Soundtrack der Nacht
Das ging nur leidlich gut, denn die Vorstellung von blinden Passagieren in den Socken hielt mich auch vom Schlafen ab. Der Fettes-Brot-Song "Silberfische in meinem Bett" wurde zum Soundtrack dieser Nächte.
Irgendwann hatte ich die besockten Nächte satt und sagte meiner Freundin, dass ich etwas gegen die Fischchen unternehmen würde. Sie ließ mich machen, aber ihr war offenbar nicht klar, was das in letzter Konsequenz bedeutete: Der Untergang des Silberfischchen-Königreichs.
So erzählte ich ihr nichts von dem Döschen, das ich heimlich in der Drogerie gekauft hatte. Es war etwa so groß wie eine Streichholzschachtel. Ich stellte es unter das Waschbecken auf den Boden und hoffte, sie würde es niemals entdecken.
Ich fühlte mich wie Cortés. Nur, dass ich nicht hinter dem Gold der Azteken her war, sondern hinter dem Silber der Fischchen.
Im Bad tun sich ethische Fragen auf
Als meine Freundin es eines Tages doch entdeckte, stürzte es die überzeugte Vegetarierin in einen Gewissenskonflikt. Ich flüchtete mich in Sarkasmus und nannte es fortan nur noch das Mausoleum. Sie flüchtete sich in die Musik. Mit "Karl der Silberfisch wurde nicht gefragt, man hatte ihn einfach fortgejagt" oder "Sag mir wo die Fischchen sind. Wo sind sie geblie-hie-ben?" erklangen in den nächsten Wochen zu dezenten Gitarrenakkorden leicht abgewandelte Klassiker der Friedensbewegung in ihren Räumen.
Was sich des Nachts genau im Mausoleum abspielte? Ich weiß es nicht. Und ich will es nicht wissen (die Antwort auf die Frage lesen Sie hier in einem Interview mit einer Biologin). Was ich aber weiß, ist: Als ich nach vier Wochen eines Nachts die Sonne über dem Silberfischchen-Königreich anknipste, war es still. Keine huschenden silbernen Leiber, die sich unter Vorleger, in Ritzen, in Fugen flüchteten. Die Silberfischchen waren weg. Nur die einstmals eierschalenfarbenen Kacheln hingen noch immer von den Wänden. Sie hatten Aufstieg und Fall von großen Kanzlern gesehen. Sie hatten Aufstieg und Untergang eines Königreichs gesehen.
Ein Trost bleibt: Meine Freundin hat in unserer neuen Wohnung (Neubau!) schon die ersten Silberfischchen gesichtet. Aber ich weiß nicht, wo. Den Standort dieses Silberfischchen-Königreichs hält sie streng geheim.