Tödliche Klinikkeime Hygienemangel ist der neue Ärztepfusch

Die Zahl unnötiger Todesfälle im deutschen Gesundheitssystem ist laut Statistik um rund 37 Prozent gestiegen. Der Anstieg ist vor allem gravierenden Hygienemängeln in Kliniken und Arztpraxen geschuldet. Die Maßnahmen zum Schutz vor Erregern reichen bei weitem nicht aus.
Operation in der Klinik: Hygiene ist oberstes Gebot

Operation in der Klinik: Hygiene ist oberstes Gebot

Foto: Al Hartmann/ ASSOCIATED PRESS

Es liegt nicht an Operationsbestecken, die vermehrt während eines Eingriffs im Bauch des Patienten vergessen wurden. Es liegt auch nicht an häufigeren groben Fehleinschätzungen durch Ärzte während der Behandlung. Warum also stieg die Zahl der Deutschen, die an den Folgen einer medizinischen Behandlung gestorben sind, von 1189 im Jahr 2009 auf 1634 im Jahr 2010, also um rund 37 Prozent?

Eine korrekte Auswertung der Daten zeigt: Nicht der Ärztepfusch, sondern ein ganz anderer Faktor ist für den dramatischen Anstieg verantwortlich, nämlich "unzulängliche aseptische Kautelen", oder schlichter ausgedrückt: Hygienemangel. Dies bestätigte ein Experte des Statistischen Bundesamts SPIEGEL ONLINE.

"Kautelen bezeichnet alle Maßnahmen, die ich am Patienten durchführe", sagt Frauke Mattner, Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Krankenhaushygiene der Deutschen Hygienegesellschaft . "Hände desinfizieren, bevor ich eine Spritze aufziehe, Blut entnehme oder eine Spritze setze." Gleiche Vorgaben gelten bei der Durchführung jeder Therapie - bis hin zu Operationen. Werden hier im Nachhinein Fehler festgestellt, landet das im Protokoll, fein säuberlich mit einer Nummer versehen.

Jede Behandlung in einer Klinik, jeder Todesfall wird genau dokumentiert - das dient zur Abrechnung des Krankenhauses mit der Krankenkasse. Auch das Aqua-Institut , das die Qualität im deutschen Gesundheitssystem kontrollieren soll, sammelt und analysiert die Daten, gleiches macht das statistische Bundesamt. Alle verwenden dabei denselben internationalen Kodierungsschlüssel, vergeben durch die Weltgesundheitsorganisation. Die Nummer für den Mangel bei Hygiene in der Behandlung ist die Y62.

Todesfälle durch medizinische Therapie /im Zusammenhang mit Medizinprodukten

2007 2008 2009 2010
Todesfälle bei OPs oder medizinischer Behandlung (ICD Y60-69) 112 182 551 944
Todesfälle im Zusammenhang mit Medizinprodukten/geräten (ICD Y70-82) 12 17 22 24
Spätere tödliche Komplikationen in Folge einer OP oder Therapie (ICD Y83-84) 479 606 598 649
Tod durch Spätfolgen einer medizinischen Invervention (Y88) 19 29 18 17
Gesamt 622 834 1189 1634
ICD-10 Y62 (Unzulängliche aseptische Kautelen) 5 49 235 434
ICD-10 Y83.0 Tödliche Komplikation nach einer Organtransplantation 93 131 134 171
Quelle: Statistisches Bundesamt

Der starke Anstieg der festgestellten Todesfälle durch Hygieneprobleme liegt wahrscheinlich an einer genaueren Dokumentation - 2007 gab es eine Überarbeitung des gigantischen Nummerwerks. Das erklärt auch den Anstieg der festgestellten Zahlen von fünf Fällen in 2007 auf 434 im Jahr 2010.

Das Hygieneproblem ist bekannt. In deutschen Kliniken, aber auch in Altenheimen, Rehazentren und Dialysestationen sind reichlich sogenannte multiresistente Bakterien unterwegs, die fast alle Antibiotika vertragen. Jeden Tag, schätzt das Robert Koch-Institut, sterben in Deutschland mindestens vier Menschen unnötigerweise an einer Krankenhausinfektion.

Das 2011 verabschiedete Infektionsschutzgesetz, mit dem die Bundesregierung die Entwicklung stoppen will, geht Patientenverbänden längst nicht weit genug. Es gebe Schätzungen, dass bis zu 17.000 Menschen jährlich an den Folgen eingeschleppter Keime versterben. "Es ist unglaublich, wie mit den jetzt bekannt gegebenen Zahlen der eigentliche Skandal vertuscht wird", sagt Ilona Köster-Steinebach vom Bundesverband der Verbraucherzentralen (VZBV).

Der VZBV kritisiert am aktuellen Hygieneschutzgesetz, dass viele der Regeln, die Hygienestandards verbessern oder die Beschäftigung entsprechend geschultem Personals in Krankenhäusern fordern, mit langen Übergangsfristen belegt seien. Zudem seien sie für Patienten kaum kontrollierbar und den jeweiligen Bundesländern in der Umsetzung freigestellt. Einheitliche Regeln fehlten.

Tatsächlich lassen auch in der Qualitätssicherung Analysen auf sich warten, mit denen Fehler im System entdeckt werden könnten. Das Aqua-Institut überwacht fortlaufend insgesamt 30 medizinische Behandlungsgruppen auf Basis der ICD-Schlüssel - zum Beispiel Lebertransplantationen oder das Einsetzen von Herzschrittmachern. Die Hygiene-Problem-Nummer Y62 ist den Qualitätsschützern bislang nicht bekannt.

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