Unnötige Rückenoperationen "Die Medizin verführt die Patienten"

Die Zahl der Wirbelsäulenoperationen steigt rasant, doch oft wird am Rücken nur deshalb herumgedoktert, weil der Arzt es kann - und nicht, weil der Patient es braucht. Im Interview erklärt der Orthopäde Marcus Schiltenwolf, was Betroffenen wirklich hilft.
Schmerzende Halswirbelsäule (Symbolbild): "Ein seelisches Problem wird verkörperlicht"

Schmerzende Halswirbelsäule (Symbolbild): "Ein seelisches Problem wird verkörperlicht"

Foto: Corbis

SPIEGEL ONLINE: Herr Schiltenwolf, die Zahl der chirurgischen Eingriffe an Wirbelsäulen nimmt in Deutschland seit Jahren dramatisch zu. Inzwischen kommen jedes Jahr 160.000 Rücken unters Messer. Wie erklären Sie diesen rasanten Anstieg?

Schiltenwolf: Operationen werden einerseits sehr gut bezahlt, und wir haben zu viele Operateure. Gerade in der Orthopädie und in der Neurochirurgie sind immer mehr Leute auf den Rücken spezialisiert. Das hat Folgen: Die Menge der Operationen korreliert ausschließlich mit der Menge der Operateure.

SPIEGEL ONLINE: Dabei zeigen Studien, dass eine Operation an der Bandscheibe meistens gar nicht mehr hilft als eine konservative Behandlung, etwa mit Schmerzmitteln und Krankengymnastik.

Schiltenwolf: Es gibt immer Rückendoktoren, die sagen: Ich habe jetzt die beste Technik entdeckt, damit löse ich alle Probleme. Die Medizin tritt als Verführungsinstitution auf.

SPIEGEL ONLINE: Und die Patienten machen da einfach so mit?

Schiltenwolf: Die Gesellschaft traut der Medizin zu viel zu. Es gibt viele Patienten, die sind mit so wenig Selbstwert ausgestattet, dass sie gerne dem mächtigen anderen, sprich: dem Rückendoktor, alles glauben und alles mitmachen.

SPIEGEL ONLINE: Welche nicht körperlichen Gründe können der Grund für ständige Rückenschmerzen sein?

Schiltenwolf: Angst kann ein Auslöser sein, Depressionen und Stress, wobei sich das alles überlagert. Schmerz kann zu dem führen, was wir als Somatisierung bezeichnen, ein eher seelisches Problem wird verkörperlicht.

SPIEGEL ONLINE: Wie kann so etwas geschehen?

Schiltenwolf: Nehmen wir an, ein durchtrainierter junger Mann wird an seinem Arbeitsplatz schwer gekränkt. Ein Mensch, von dem die Leute sagen: Was für ein Bulle! Soll der jetzt sagen: Ich bin gekränkt worden? Nein, er wird sagen: Ich habe es im Kreuz. Der junge Mann macht das so lange, bis die erste Kernspin-Aufnahme seiner Wirbelsäule gelaufen ist - und dann wird vielleicht auch etwas an den Bandscheiben gefunden. In der Folge behandeln die Ärzte immer nur die Bandscheibe, obwohl es eigentlich um ein Kränkungsmotiv geht, aber das darf eben nicht herauskommen. Es ist die Kunst des Arztes, den jungen Mann zu dieser Erkenntnis hinzuführen - und ihn nicht zu operieren.

SPIEGEL ONLINE: Sind seelische Probleme möglicherweise der Hauptauslöser für Rückenschmerzen?

Schiltenwolf: Es gibt Menschen mit chronischen Rückenschmerzen, die allein von einer Psychotherapie profitieren können. Das ist aber eher die Minderheit. Die meisten Rückenpatienten brauchen Bewegungstherapie und therapeutische Gespräche, um im Körper spüren zu können, dass sich etwas verändert, und um zu verstehen, was wichtig ist und wie sie es ändern können.

Das Interview führte Jörg Blech

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