Wir machen uns mal frei Menschen, die Urin trinken

Urin als Therapie: Allheilmittel oder esoterischer Quatsch?
Foto: CorbisDie Achtziger waren ein sonderbares Jahrzehnt. Da fürchteten sich Menschen vor Stimmen in Kloschüsseln, ein Israeli verbog Gabeln via Fernsehen, und die Mädchen fanden "Dirty Dancing" gut. Aber eine der größten Geschmacksverirrungen dieser Zeit war die wie aus dem Nichts aufkommende Mode, seinen Urin zu trinken. Seinen! Urin! Trinken!
Anhänger dieser Praxis tun das in der Überzeugung, sich damit Gutes zu tun. Die "Eigenharntherapie" hilft angeblich bei so ziemlich allem, egal ob man an Asthma, Akne oder Aids leidet .
Richtig populär wurde die absonderliche "Therapie", als die Radio- und Fernsehmoderatorin Carmen Thomas ("Schalke 05") 1993 das Buch "Ein ganz besonderer Saft, Urin" herausbrachte. Auf einmal war Urin in vieler Munde. Das Buch verkaufte sich angeblich über eine Million Mal.
Diesen Erfolg führe ich auf die nervenkitzelige Mischung aus Ekel, Tabubruch und Natursehnsucht zurück. Urintrinken war Proto-Dschungelcamp und Proto-Landlust zugleich. Und es war der Tabubruch des kleinen Mannes. Hier ging es nicht darum, Menschenfleisch zu essen. Hier konnte jeder mitmachen: Ob Heinz K. aus Sprockhövel (Schnittwunden geheilt) oder Doris V. aus Kevelaer-Kervenheim (Fußpilz und Fußgestank kuriert) - Pipi hat jeder, er ist umsonst, garantiert "ohne Chemie" und seine Heilkraft ja angeblich schon seit Jahrhunderten bekannt. Man kann mit ihm gurgeln (Zahnschmerzen), sich die Augen ausreiben (grauer Star) oder ihn einfach ins Gesicht schütten (Anti-Falten). Und ihn natürlich auch trinken - so wie der ehemalige indische Ministerpräsident Morardschi Desai , auf den Carmen Thomas sich immer wieder beruft.
Ein ganz besonderer Saft
Wie sonst bitteschön hat der Mann denn 99 Jahre alt werden können, wenn nicht durch den "ganz besonderen Saft"? Ja, die Sehnsucht des Menschen nach Kausalität stürzt sich auf alles, was sie kriegen kann - so wie sie es gerade braucht. So wie Raucher immer wieder den armen Helmut Schmidt hervorzerren, wenn sie sich ihre Sucht schönreden wollen. Drehen wir die Frage doch mal um: Vielleicht würde Morardschi Desai heute ja noch leben, hätte er nicht täglich seinen Urin getrunken? Und vielleicht würde Helmut Schmidt heute auch nicht im Rollstuhl sitzen, wenn er weniger qualmen würde. Was kommt als Nächstes, Esoterik-Deutschland? Fingernägel bei Mondschein knabbern? Pendeln mit Gallensteinen?
Obwohl das Thema zum Glück wieder aus den Medien verschwand, fasziniert es noch immer. Neulich bei einem Käsefondue poppte es zwischen langgezogenen goldgelben Fäden auf. "Mittelstrahl", sagte Andi kopfschüttelnd. "Das könnte ich ja niemals." Wir sannen eine Weile darüber nach, die Augen auf den Topf gerichtet, den Kopf voller gelber Gedanken. Dann sagte ich: "Ich könnte es auch nicht."
Und wenn ich es müsste? Survival-Experten schwören auf Urintrinken als lebensrettende Maßnahme vor dem Verdursten. Bear Grylls ist so ein Survivaltyp und ein echt krasser dazu. Insekten zu essen und Krebse in stinkigen Socken zu garen, sind noch zwei seiner angenehmsten Überlebenstricks. Aber er schneidet auch tote Kamele auf, um das Restwasser aus ihrem Pansen zu trinken .
Melken bis zum letzten Tropfen
Was aber, wenn gerade kein Kamel herumliegt? Dann, so Grylls, hilft nur der Griff zum eigenen Zapfhahn. Doch selbst der Mann, der sich Wasser aus Kamelbäuchen herunterwürgt und lebende Spinnen isst, fand, dass Urintrinken eine der widerlichsten Angelegenheiten war, die er je tun musste.
Ob es wirklich lebensrettend ist, darüber gibt es Kontroversen. Das US-Militär, nicht gerade als zimperlich bekannt, rät in seinem US Army Field Manual davon ab. Auch Christoph Bickel, Bundeswehrarzt und erfahren in Extremsituationen, ist skeptisch: "Urin trinken ist einfach nicht sinnvoll", sagt er. "Wenn man überhaupt keine Flüssigkeit mehr hat, kann man das versuchen." Bestenfalls verzögere es das Verdursten, das Problem löse es nicht: Der Körper braucht Wasser. Je öfter man Harn recycelt, desto höher konzentrieren sich die darin enthaltenen Salze und entziehen dem Gewebe Flüssigkeit.
Hochkonzentriert ist auch Carmen Thomas auf das Thema ihres Lebens. Angesichts seines 20-jährigen Jubiläums ist ihr Buch gerade neu aufgelegt worden. Diesmal versucht sie, auch jüngere Zielgruppen anzusprechen. Zum Beispiel indem sie erzählt, wie Wissenschaftler nun auch mit Hilfe von Urin Strom erzeugen können. Der "ganz besondere Saft" hilft also aus, wenn das Smartphone selbst keinen mehr hat. Ja, den Erfolg muss man melken. Bis zum letzten Tropfen.
Kann die Eigenurintherapie schaden?Schützt Eigenurin im Notfall vor dem Verdursten?Kann man im Notfall den Urin von Tieren trinken?