Valsartan-Skandal Hunderttausende betroffene Patienten, viele offene Fragen

Sehr viele Menschen in Deutschland haben verunreinigte Blutdrucksenker eingenommen. Der Skandal offenbart große Probleme bei der Kontrolle von Medikamenten.
Blutdrucksenker mit dem Wirkstoff Valsartan

Blutdrucksenker mit dem Wirkstoff Valsartan

Foto: Fabian Sommer/ dpa

Vor gut drei Wochen wurde bekannt, dass viele Blutdrucksenker mit dem Wirkstoff Valsartan mit einem potenziell krebserregenden Stoff verunreinigt sind. Doch noch sind viele Fragen offen.

Bislang haben weder die deutschen Landesbehörden noch die Hersteller Daten zur Dosis des Stoffes N-Nitrosodimethylamin (NDMA) veröffentlicht, der offenbar in den Produkten mehrerer Pharmaunternehmen enthalten war. Die EU und die internationale Agentur für Krebsforschung stufen den Stoff beim Menschen als wahrscheinlich krebserregend ein.

Nach ersten Stichprobenanalysen des Zentrallaboratoriums Deutscher Apotheker sind die Verunreinigungen nicht zu vernachlässigen: In einzelnen Tabletten fanden sich bis zu 22 Mikrogramm NDMA.

Zum Vergleich: Bei Lebensmitteln wurde die NDMA-Belastung in den letzten Jahrzehnten stark reduziert. Wie Mitarbeiter des Zentrallaboratoriums in der "Pharmazeutischen Zeitung"  schreiben, enthalte geräucherter Schinken maximal 2,5 Mikrogramm NDMA pro Kilogramm, für Bier existiere ein technischer Richtwert von 0,5 Mikrogramm pro Kilogramm.

"Überraschend hoch"

Der Ausgangswirkstoff für die inzwischen vom Markt genommenen Arzneimittel kam vom chinesischen Produzenten Zhejiang Huahai Pharmaceutical. Telefonisch war die Firma nicht zu erreichen. Am Dienstag betonte sie in einer Erklärung, dass es sich bei den Verunreinigungen um eine extrem geringe Menge handele. Der Pharmazeut Fritz Sörgel widerspricht. "Im Gegenteil: Es ist überraschend, dass sie so hoch ist", sagt er.

Noch ist offen, welches Risiko die dauerhafte Einnahme der verunreinigten Präparate mit sich bringt. Trotzdem besteht nach aktueller Einschätzung zumindest kein akutes Gesundheitsrisiko, erklärt der Sprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Auf EU-Ebene analysieren und bewerten Arzneimittelexperten derzeit die Tragweite der Verunreinigung, wie auch die hiermit verbundenen Risiken.

Patienten, die valsartanhaltige Medikamente einnehmen, sollten sich nach Empfehlung des BfArM mit ihrem Arzt oder Apotheker in Verbindung setzen. Wichtig sei, das Arzneimittel nicht ohne Rücksprache abzusetzen, weil dies ungleich riskanter wäre. Auf dem Markt gibt es zahlreiche Valsartan-Präparate ohne Verunreinigung - und andere Blutdrucksenker.


Die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) pflegt eine Liste  über die zurückgerufenen Valsartan-Medikamente.


Valsartan ist ein häufig verschriebener Wirkstoff: Er senkt den Blutdruck und wird auch bei Patienten mit Herzschwäche oder nach einem Herzinfarkt eingesetzt. Nach einer Schätzung der Bundesregierung könnten im vergangenen Jahr rund 900.000 Patienten das verunreinigte Mittel eingenommen haben.

Problem bestand womöglich schon seit 2012

Laut der Europäischen Arzneimittelbehörde Ema bestand das Problem bei der Valsartan-Herstellung von Zhejiang Huahai Pharmaceutical womöglich schon seit 2012, als dort der Produktionsprozess umgestellt wurde. Für andere von ihm produzierte Wirkstoffe habe der chinesische Hersteller Untersuchungen der Herstellungsprozesse vorgenommen und hierbei keine NDMA-Verunreinigungen festgestellt, da sich deren Produktionswege deutlich unterschieden, so die Ema.

Derzeit wird auch geprüft, ob Arzneimittel anderer Hersteller gleichfalls verunreinigt sein könnten. Am Donnerstag rief der deutsche Pharmahersteller Hormosan seinen Blutdrucksenker Irbesartan vorsichtshalber teilweise aus den Apotheken zurück, da er nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen könne, dass einzelne Chargen produktionsbedingt mit NDMA verunreinigt seien. Auch hier sei von keinem akuten Patientenrisiko auszugehen.

Aus Sicht vieler Experten ist es unverständlich, dass Verunreinigungen mit einem potenziell krebserregenden Stoff in einem Arzneimittel so lange unentdeckt bleiben. "Kritisch bewerten wir die Tatsache, dass über einen anscheinend mehrjährigen Zeitraum sowohl die Hersteller, die dem Arzneimittelgesetz unterstehen, als auch die zuständigen Kontrollbehörden keine Kenntnis über die Verunreinigung hatten", schreibt etwa ein Sprecher des Verbands der Ersatzkassen in Sachen Valsartan. Hier sei augenscheinlich nicht ausreichend kontrolliert und der Verbraucherschutz vernachlässigt worden.

Wer trägt den wirtschaftlichen Schaden?

Gleichzeitig werde voraussichtlich die Solidargemeinschaft für den wirtschaftlichen Schaden aufkommen müssen. "Grundsätzlich sollte hier das Verursacherprinzip gelten", sagt der Kassensprecher. Er fordert Gesetzesreformen. "Es kann nicht sein, dass Versicherte für die unzureichende Qualitätsprüfung der verursachenden Hersteller aufkommen."

Der AOK-Bundesverband verlangt strengste Auflagen auch für Firmen im Ausland: Die Politik müsse mit den global agierenden Herstellern aushandeln, wie dies umgesetzt werden kann. "Natürlich haben deutsche Qualitätsstandards zu gelten", sagt der Pressesprecher. Ein Barmer-Sprecher betont gleichfalls, dass die "bereits heute existierenden Prüfregularien" überprüft werden müssten.

Der Fall werfe ein schlechtes Licht auf den Import von Arzneimitteln, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Offenbar hätten die Kontrollmechanismen versagt, sodass verunreinigte Arzneimittel bis nach Deutschland zum Patienten kamen. "Es ist vollkommen inakzeptabel für unsere Verbraucher, dass Arzneimittel hier auf den Markt kommen, die möglicherweise krebserregende Substanzen enthalten", sagt er.

Medikamentenproduktion wieder nach Europa verlagern?

Daher sollte sich die EU-Kommission nach gründlichen Untersuchungen überlegen, ob die Arzneimittelproduktion nicht wieder verstärkt nach Europa verlagert werden sollte.

Um derartige Verunreinigungen vorab zu erkennen, fordert der Pharmazeut Sörgel, dass die bestehenden modernen Analysemethoden zukünftig voll ausgeschöpft würden. Der aktuelle Fall zeige, welche Probleme auftauchen könnten, wenn Pharmahersteller immer nur nach noch billigeren Herstellungsmethoden suchten und das Offensichtliche dabei übersehen würden, sagt er.

Seiner Ansicht nach sollten nun Untersuchungen dazu starten, welche gesundheitlichen Folgen die womöglich über Monate oder Jahre zugeführten NDMA-Dosen für die betroffenen Patienten haben. "Ein solches Unglück muss dazu führen, dass erforscht wird, wie es dazu gekommen ist und welche Folgen es hat", sagt Sörgel.

wbr/von Hinnerk Feldwisch-Drentrup, dpa
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