Mythos oder Medizin Ist das tägliche Gläschen wirklich gesund?

Jahrelang beschworen Forscher die gesunde Wirkung von moderatem Alkoholkonsum. Jetzt haben sich Wissenschaftler die Studien noch mal angesehen - und Fehler entdeckt.
Glas Rotwein

Glas Rotwein

Foto: Corbis

Der Mensch glaubt manchmal, was er gern glauben möchte - auch Wissenschaftler. Ein typisches Beispiel dafür ist das gesunde Gläschen. Jeder weiß, dass Alkohol in großen Mengen schadet, die Leber angreift, das Krebsrisiko erhöht. Das ändert jedoch nichts daran, dass viele das Glas Wein zum Essen oder das Bier nach dem Feierabend als puren Genuss empfinden. Wie schön wäre es also, wenn dieser maßvolle Konsum sogar gesundheitlich legitimiert wäre?

Das dachten sich in den vergangenen Jahren wohl auch viele Forscher und begannen, den Effekt moderater Mengen Alkohol auf die Gesundheit zu untersuchen. Ihre Ergebnisse zeigten, was erhofft war: 2006 etwa kam eine Zusammenfassung von 34 Studien  zu dem Schluss, dass Männer am längsten leben, wenn sie im Schnitt täglich ein bis zwei Drinks schlürfen. Bei Frauen errechneten die Forscher das geringste Sterberisiko bei 0,1 bis 0,9 Drinks pro Tag.

Abstinenzler: Oft kranke Menschen, die nicht trinken dürfen

Dass viele der Forscher die Ergebnisse mehr herbeibeschworen, als wirklich wissenschaftlich begründet haben, zeigt jetzt eine neue Auswertung. Für ihre Analyse im "Journal of Studies on Alcohol and Drugs"  knöpften sich kanadische Wissenschaftler von der University of Victoria in British Columbia 87 Studien zu moderaten Trinkern noch einmal vor. Ihr Fazit: Die Belege dafür, dass ein tägliches Gläschen das Leben verlängert, sind wenn überhaupt äußerst dünn.

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Ein Hauptproblem vieler Untersuchungen war demnach die Definition von Abstinenzlern. Oft galten alle Menschen als abstinent, die im Studienzeitraum keinen Alkohol konsumierten - unabhängig davon, warum sie verzichteten. So landeten häufig Menschen in der Abstinenzler-Gruppe, die aufgrund einer Krankheit oder einer Abhängigkeit nicht trinken durften. Ihre Gesundheit wurde anschließend verglichen mit der von Menschen, die bis zu zwei Drinks pro Tag konsumierten.

Das kaum überraschende Ergebnis: Moderate Trinker waren oft gesundheitlich fitter als Nichttrinker. Nur mit dem Alkohol hatte das wohl kaum etwas zu tun, wie die Forscher der aktuellen Analyse in einem zweiten Schritt aufzeigten. Als sie Verzerrungen durch kranke Abstinenzler und ähnliche Fehler aus den Daten herausrechneten, schwand die längere Lebenserwartung der moderaten Trinker dahin.

Alkohol: Schutz vor Leberzirrhose? Wirklich?

Tim Stockwell und seine Kollegen sind nicht die Ersten, die Skepsis am gesunden Gläschen anmelden. 2013 etwa hat der Forscher Hans Olav Fekjaer eine lange Liste mit 20 Gesundheitsproblemen erstellt, bei denen moderate Trinker laut Beobachtungsstudien besser dran waren als Abstinenzler. Darunter: Hüftbrüche, Erkältungen, Krebs, Demenz, Komplikationen bei der Geburt, Taubheit, Leberzirrhose.

Wäre das alles auf den maßvollen Alkoholkonsum zurückführen - es wäre ein Allheilmittel gefunden. Stattdessen kommt der Forscher, der mit seiner Analyse für einen kritischen Blick auf Studien werben möchte, zu einem anderen Fazit: "Die wissenschaftlichen Belege für die schädlichen Effekte von Alkohol sind zweifelsohne besser als die für die vorteilhaften", schreibt er im Fachmagazin "Addiction" .

Ähnlich sahen das auch Forscher der University College London, die vor etwa einem Jahr dafür plädierten, nichts zu glauben, "was zu schön klingt, um wahr zu sein". Sie hatten die Daten von mehr als 18.000 älteren Engländern analysiert. Fast zehn Jahre lang gaben die Teilnehmer jedes Jahr Auskunft über ihr Trinkverhalten, mehr als 4000 starben in der Zeit. Als die Wissenschaftler die Todesfälle mit dem Alkoholkonsum abglichen, folgte das ernüchternde Ergebnis: Zwischen moderaten Trinkern und Nichttrinkern gab es keinen nennenswerten Unterschied.

Noch keine einzelnen Alkoholsorten untersucht

Ein Fünkchen Hoffnung bleibt angesichts der Daten nur noch für Menschen wie Queen Mum, die bis zu ihrem Tod im Alter von 101 auf ein bestimmtes Getränk schwor: Gin. In ihren kritischen Studien konzentrierten sich die Wissenschaftler nämlich nur auf den Alkoholkonsum an sich - und unterschieden noch nicht, was die Personen tranken. Möglicherweise könnte es also doch noch sein, dass etwa Rotweintrinker oder Gintrinker gesünder leben und Biertrinker ihre guten Ergebnisse zunichtemachten. Oder andersherum.

Falls es einen solchen positiven Effekt etwa von Rotwein geben sollte, sei dieser jedoch sicher nicht dem Alkohol, sondern anderen Inhaltsstoffen zuzuschreiben, sagt Stockwell. Rotwein-Liebhabern dürfte das egal sein.

Zusammenfassung: Wer regelmäßig ein bisschen Alkohol trinkt, lebt zwar nicht kürzer als Nichttrinker - aber auch nicht länger. Die Mär vom gesunden Gläschen geht vor allem auf Studien zurück, die wissenschaftlich nicht haltbar sind. Nur eins könnte sich noch bewahrheiten: Dass sich einzelne Alkoholsorten wie etwa Rotwein positiv auswirken. Das hätte dann aber nichts mit dem Alkohol zu tun, sondern mit anderen Inhaltsstoffen.

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Es heißt immer, Alkohol tötet Gehirnzellen. Wieviel muss man trinken, um das zu bemerken?
Letztlich gehen bei jedem Rausch Nervenzellen kaputt. Offenbar sind aber so viele davon überschüssig, dass ihr Verschwinden erst mal nicht auffällt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Blut-Hirn-Schranke, die das Gehirn teilweise vom Alkohol abschirmen kann - aber nur, solange sie intakt ist.

Und wann ist das nicht mehr der Fall?
Die Funktion der Blut-Hirn-Schranke verändert sich durch den Alkohol. Zunächst wird sie enger und lässt geringere Mengen des Nervengifts ins Gehirn. Der Betroffene kann dann mehr trinken, ohne sich betrunken zu fühlen. Das Gefährliche dabei: Die Leber leidet trotzdem. Später bricht die Blut-Hirn-Schranke dann völlig zusammen, sodass sich messbare Schäden im Gehirn bemerkbar machen, etwa Erinnerungsverlust. Leider lässt sich nicht vorhersagen, nach wie viel Alkohol das geschieht.

Wann wird die Leber geschädigt?
Als Faustregel für Frauen gilt: Wer an mindestens vier Tagen die Woche jeweils 0,5 Liter Bier, einen Viertelliter Wein oder drei Schnaps à zwei Zentilitern trinkt, läuft Gefahr, die Leber zu überfordern und provoziert eine Leberzirrhose. Die Leber von Männern kommt ungefähr mit der zwei- bis dreifachen Menge Alkohol klar, bevor das Erkrankungsrisiko merklich steigt. Bei einer Leberzirrhose werden die Zellen des Entgiftungsorgans unwiderruflich durch Narbengewebe ersetzt, bis das Organ nicht mehr funktioniert.

Warum trinken Menschen überhaupt Alkohol?
Entscheidend ist, dass der Stoff einfach verfügbar ist und das Trinken toleriert wird. Zu Zeiten meiner Großmutter etwa wären Frauen unter der Woche nie auf die Idee gekommen, einen Tropfen anzurühren. Heute ist Trinken am Abend unter der Woche bei beiden Geschlechtern anerkannt. Das macht sich auch in den Suchtzahlen bemerkbar, die Frauen holen auf.

Wann wird Alkohol zur Sucht?
Problematisch wird es, wenn es keine alkoholfreien Tage mehr gibt. Oft dient der Stoff dann auch nicht mehr als Genussmittel, sondern als Medikament, etwa um die Familie zu ertragen oder den Alltag bewältigen zu können. Wenn ich morgens erst mal einen Schluck Alkohol brauche, um in die Gänge zu kommen, läuft sicher etwas falsch.

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