Bewegungssinn "Kleine Veränderungen, großer Effekt"

Slackline balancieren ist nicht angeboren - aber trainierbar
Foto: © Mariana Bazo / Reuters/ REUTERSGeorg Wüllner ist Sportphysiotherapeut/ Manualtherapeut und Dozent für Orthopädie und klinische Diagnostik Er war bereits an der Entwicklung von Sportbekleidung beteiligt. Wüllner arbeitet und lebt in Schmallenberg.
SPIEGEL ONLINE: Herr Wüllner, was versteht man unter Bewegungssinn?
Wüllner: Beim Körper- und Bewegungssinn, auch Propriozeption genannt, geht es um die Tiefensensibilität. Im Körper gibt es viele Rezeptoren, die in der Haut, Gelenkkapseln, Sehnen, Muskeln und Faszien sitzen und die den Körper steuern.
SPIEGEL ONLINE: Wie muss man sich das vorstellen?
Wüllner: Wenn Sie beispielsweise Ihre Augen schließen und den Arm 90 Grad beugen sollen, ohne hinzusehen, geben die Rezeptoren im Gelenk die Info ans Gehirn: So geht ein rechter Winkel. Das Gehirn gibt die Info wieder zurück ans Gelenk. Und der Arm stellt 90 Grad ein. Das läuft automatisch ab.
SPIEGEL ONLINE: Ist der Bewegungssinn angeboren oder trainierbar?
Wüllner: Sowohl als auch. Babys lernen, sich von der Horizontalen aufzurichten. Sie stehen und laufen. Das ist evolutionsmäßig vorgegeben. Doch um beispielsweise auf einer Slackline balancieren zu können, muss man trainieren.
SPIEGEL ONLINE: Je mehr ich also meinen Bewegungssinn schule, desto ausgefeilter sind meine Rezeptoren und desto besser kann ich mich bewegen?
Wüllner: Genau. Wer früh viele verschiedene motorische Bewegungen trainiert, verfeinert seine Sensomotorik. Die Rezeptoren bestimmen dabei die Haltung, Muskel- und Gelenkstellung sowie den Muskeltonus. Beispiel Elfmeterschießen. Sie schießen, und der Ball geht über das Tor. Der Trainer sagt: Rückenlage. Dann schießen Sie noch mal. Diesmal ist der Ball zu flach. Aus beiden Variationen bilden sie die Mitte, und wenn der Elfmeterschuss dann ins Tor geht, speichern sie diese Informationen ab und erschaffen daraus eine Regel für den nächsten Elfmeter. Dieses Programm muss mehrmals abgerufen werden, um es zu festigen.
SPIEGEL ONLINE: Kommt es darauf an, dass ich vor allem in jungen Jahren viele unterschiedliche Bewegungsarten kennenlerne?
Wüllner: Nicht unbedingt, aber es ist ratsam. Im Kindes- und Jugendalter fällt es leichter, solche Bewegungsmuster anzulegen. Kinder, die früh viel klettern dürfen, legen bestimmte motorische Muster an, die als Bewegungsprogramm abgespeichert werden. Diese Kinder werden es dann leichter haben, später ähnliche Bewegungen zu erlernen. Eine gute Koordination bedeutet, dass Bewegungen ökonomischer ablaufen und die Verletzungsgefahr reduziert wird.
SPIEGEL ONLINE: Welches Gewicht haben Einflüsse von außen?
Wüllner: Gerade im Leistungssport geht es um eine Variationsbreite an Erfahrungen. Man versucht, unter möglichst unterschiedlichen Verhältnissen im Training, auf den Ernstfall im Wettkampf vorzubereiten. Skiabfahrtsfahrer etwa trainieren mit eingeschränkter Sicht oder lösen auf dem Weg nach unten eine Matheaufgabe. Je mehr Reize ich kennenlerne - ob optisch, akustisch, kognitiv oder propriozeptiv -, desto konzentrierter und schneller kann ich agieren und reagieren. Je mehr Erfahrungen ich mache, desto eher werde ich die motorischen Programme automatisch und routinierter abrufen können.
SPIEGEL ONLINE: Derzeit entwickelt die Sportindustrie immer mehr Bekleidung, die den Körper stimulieren sollen - über Kompression oder gar Noppenkonstruktionen . Was bringt das?
Wüllner: Im Leistungssport zählt jedes Detail. Kleine Veränderungen können einen bedeutenden Effekt haben. Bei Kompressionswäsche werden die oberflächlichen Druckrezeptoren stimuliert. Es entsteht eine Art Drainage-Effekt. Sauerstoffarmes Blut kann eher abfließen, sauerstoffreiches Blut strömt ein. Das beschleunigt die Regeneration.
SPIEGEL ONLINE: Und was bringen Noppen?
Wüllner: Wenn ich in die tieferliegenden Faszien kommen möchte, brauche ich größere Erhebungen in der Bekleidung. Durch kleine Noppen, die auf der Innenseite von Shirt oder Hose eingearbeitet sind, aktiviere ich die Rezeptoren auf den Faszien-Schichten. Die Faszien können sich nicht so leicht verfestigen oder verfilzen und beeinflussen die Gleit- und Ernährungseigenschaften der Muskeln positiv.
SPIEGEL ONLINE: Und dann bewegt man sich geschmeidiger?
Wüllner: Genau. Es ist eine permanente Mini-Massage der Faszien. Im Idealfall verbessert sich die Haltung und Koordination.
SPIEGEL ONLINE: Machen wir nicht den Fehler, durch Bekleidung statt mit Training Schwächen des Körpers ausgleichen zu wollen?
Wüllner: Wichtig ist: Man heilt nicht. Man gibt lediglich eine Richtung vor. Kinesiotapes zum Beispiel helfen, die Grundspannung der Muskeln zu erhöhen oder runterzufahren. Die eigentliche Arbeit macht der Körper selbst, nicht das Tape. Es hilft lediglich dabei, einen Impuls von außen zu setzen, auf den die Rezeptoren reagieren.
SPIEGEL ONLINE: Orthopäden setzen mitunter Einlagen in Schuhe, um fehlerhafte Fußstellungen auszugleichen. Dieser Eingriff aber hat zur Folge, dass man eher Fehlstellungen in anderen Körperregionen riskiert. Besteht dieses Risiko nicht auch bei der Bekleidung?
Wüllner: Bei harten Einlagen ist das Problem, dass der Fuß in eine Zwangsposition gestellt wird, aus der er nicht mehr raus kann. Die gesamte Verkettungsachse des Körpers - Unterschenkel, Knie, Hüfte usw. - wird gezwungen, sich daran zu orientieren. Bei Kompressionswäsche, Noppenkonstruktionen oder auch beim Tapen mit Kinesiotape ist immer dynamischer Spielraum. Es gilt nicht die Devise: So viel wie möglich, sondern: Nur so viel wie nötig.