
Ernährungstrend: Ersetzen statt verzichten
Ersetzen statt verzichten Die Besseresser
Man nehme zwei Avocados, ein paar Esslöffel Kakaopulver und süße mit etwas Agavendicksaft. Pürieren, kalt stellen, fertig ist die Mousse au Chocolat. Was auf den ersten Blick klingt wie ein seltsames Küchenexperiment, hat den Weg in neue Trendkochbücher längst gefunden.
"Wie sich die Mousse auf der Zunge anfühlt ist sehr ähnlich wie beim Original", findet Hannah Frey, Gesundheitswissenschaftlerin und Clean-Eating-Kochbuchautorin aus Hamburg. "Und mit der richtigen Rezeptur kommt der leicht bittere Geschmack der Avocados auch nicht durch."
Es geht nicht ums Abnehmen
Doch warum muss es Avocado sein, wenn das Original mit Sahne und Ei schon so fabelhaft ist? "Die klassische Rezeptur enthält einfach sehr viel tierisches Fett und Zucker, beides ist nicht gesund", sagt Frey. Die Rohkost-Variante hingegen stecke voller gesunder mehrfach ungesättigter Fettsäuren, Mineralien und Vitamine. Der hohe Fettgehalt der Avocado und die Süße der Agave sorge zwar auch nicht für schlanke Hüften, "aber wenn man schon mal sündigt, dann eben wenigstens ohne schlechtes Gewissen", so Frey.
Besonders umstritten: Fleisch
Keine Frage, gesundes Essen ist im Trend. "Die Zeiten, in denen Essen vor allem günstig und schnell sein sollte, gehen langsam zu Ende", sagt Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie in Göttingen. "Verbraucheranalysen zeigen deutlich, dass bei der Lebensmittelauswahl Gesundheit ein immer wichtigeres Motiv wird."
Aber nicht nur das: Auch Nachhaltigkeit, Regionalität und Verantwortung spielen größere Rollen bei der Kaufentscheidung. "Durch nichts drückt der Mensch heutzutage sein Lebensgefühl so sehr aus wie durch seine Ernährung", sagt Hanni Rützler vom Zukunftsinstitut in Frankfurt. "Daher werden Ernährungsentscheidungen von den Menschen immer bewusster und bedachter getroffen."
Das trifft vor allem auf das Konfliktthema Fleisch zu. "Ersatzprodukte ohne tierische Bestandteile landen mittlerweile nicht mehr nur bei überzeugten Veggies auf den Tellern", sagt Rützler, "auch immer mehr Omnivoren versuchen, Fleisch zu ersetzen." Der gewohnte Geschmack darf dabei aber nicht fehlen. Und die Speise soll dem Original auch optisch möglichst ähneln - das Auge isst schließlich mit.
Rohkost-Spaghetti statt Eiernudeln
Wer allerdings glaubt, sich mit Veggie-Schnitzel, Veggie-Wurst oder Veggie-Nugget gesund zu ernähren, liegt falsch: Auch die vegetarischen oder veganen Varianten sind Fertigprodukte - mit all ihren Nachteilen. Wer kann, baut Königsberger Klopse, Lasagne oder Chili con Carne daher lieber selbst nach.
Von Bolognese über Eiersalat bis Roulade: Zahllose Blogs und Kochbücher bieten mittlerweile Rezepte für alternative Varianten an. Für den fischigen Geschmack im Heringssalat sorgen etwa gebratene Auberginenstücke und Nori-Algen. Für die Bolognese werden rote Linsen oder Sojaschnetzel in der Pfanne angeschwitzt, Burger bestehen aus Grünkern, Bohnen oder Tofu. Und statt kalorienreicher Eiernudeln gibt es zart geschnittene Rohkostspaghetti aus Zucchini oder Kohlrabi.
Sogar aus der Schwarzwälder Kirschtorte - der Kalorienqueen der ungesunden Sünden - lässt sich mit Mandeln, Datteln und frischen Kirschen eine Rohkostvariante nachbauen.
Klar: Der Gedanke liegt nah, diese So-tun-als-ob-Kochkunst albern zu finden. Schließlich isst man nicht jeden Tag sahnige Torten. Und ab und an zu sündigen wird ja wohl noch erlaubt sein. Starköche wie Yotam Ottolenghi etwa halten wenig vom Fleischersatz und propagieren stattdessen, Gemüse, Hülsenfrüchte, Reis und Kartoffeln so mit frischen Kräutern und interessanten Saucen zu kombinieren, dass das Fleisch gar nicht fehlt.
Es soll schmecken wie bei Oma
Warum hilft es dennoch mitunter so zu tun, als seien Zucchinischeiben Lasagneblätter? "Weil wir mit den klassischen Gerichten Heimat, Familie, Geborgenheit und Sicherheit verbinden", erklärt der Ernährungspsychologe. "Wer Bolognese kennengelernt hat, möchte auf keinen Fall auf diese positiven Assoziationen verzichten." Das Ziel der neuen Rezepturen sei es daher immer, Klassiker möglichst so abzubilden, wie Zunge und Augen sich daran erinnern.
Es soll schmecken wie bei Oma, aber den modernen gesundheitlichen, ethischen oder ökologischen Überzeugungen entsprechen. "Die neuen Rezepturen zeigen, dass es beim Essen einen großen Konflikt zwischen Tradition und Moderne gibt", sagt Ellrott. "Auf der einen Seite ist da die Sehnsucht, dass alles so bleiben und schmecken soll wie früher. Auf der anderen Seite wissen wir aber um den Preis, den wir unter Umständen dafür zahlen, zum Beispiel auf Kosten des Tierwohls, der Gesundheit oder der Umwelt."

Ernährungstipps: Vom Frühstück bis zum Festtagsschmaus
Auch Hanni Rützler sieht die neuen Food-Trends als Ausdruck einer Sehnsucht nach Veränderung: "Das sind Lösungsversuche für Probleme, mit denen wir in unserem Essalltag immer wieder aufs Neue konfrontiert werden."
Gutes zu tun, pflegt auch das eigene Wohlbefinden. Dieses Prinzip funktioniert auch beim Essen. Wer im Bioladen kauft, auf Fairtrade oder Vegan-Label achtet, steigere mit der Kaufentscheidung das eigene Selbstwertgefühl. Laut Ellrott sei bewusste Ernährung damit auch eine moderne Form der Selbstpflege. Der Ernährungspsychologe spricht vom sogenannten Halo-Effekt - "Halo" ist das englische Wort für Heiligenschein: "Das gesunde Essen strahlt auf unser inneres Empfinden aus, wir fühlen uns besser, gesünder, umweltbewusster oder auch moralisch überlegen."
Aber neben den möglichen philosophischen Hintergründen gibt es auch ganz praktische Vorteile: "Gesunde Zutaten wie Obst und Gemüse sind leichter verdaulich", sagt Hannah Frey. "Eine Linsenbolognese mit Zucchininudeln liegt einfach nicht so schwer im Magen wie das Original."