Bindegewebsnetz "Faszien müssen stimuliert werden"

Rückenschmerzen, Sportverletzungen: Mitunter sind die Faszien schuld. Das Bindegewebsnetz unter der Haut ist ein wichtiger Körperbestandteil. Im Interview mit achim-achilles.de erklärt Faszienforscher Robert Schleip, wozu das Netz gut ist und wie man es in Form hält.
Stretching: Ausgiebiges Dehnen fördert den Aufbau der Faszien

Stretching: Ausgiebiges Dehnen fördert den Aufbau der Faszien

Foto: Corbis
ZUR PERSON
Foto: fascial-fitness.de

Dr. Robert Schleip, Jahrgang 1954, ist Leiter des "Fascia Research Project" der Universität Ulm, die eine führende Rolle in der Faszien-Forschung einnimmt, sowie Mitglied der Fascial Fitness Association. Schleip ist Feldenkrais-Lehrer und seit 1978 lizensierter Rolfer. 2014 hat er das Sachbuch "Faszien-Fitness: Vital, elastisch, dynamisch in Alltag und Sport" (Riva) veröffentlicht.Fascia Research Group: Homepage des Projektes der Uni Ulm Fascial Fitness: Homepage des Netzwerkes 

SPIEGEL ONLINE: Herr Schleip, was sind Faszien?

Schleip: Unser Körper ist umhüllt von einer Art Verpackungsmaterial, das unter der Haut liegt. Es ist ein alles miteinander vernetzendes, faseriges Netz aus Bindegewebe, etwa 0,3 bis 3 Millimeter dick.

SPIEGEL ONLINE: Wozu braucht der Mensch Faszien?

Schleip: Sie geben dem Körper Form, er würde sonst auseinanderfallen. Wenn Sie einen Muskel nehmen und seine Faszienhüllen auflösen, zerläuft der Muskel wie Sirup. Es ist ein wenig so wie bei der Weißwurstpelle. Faszien halten alles zusammen. Ob der Oberarm straff oder wie Wackelpudding aussieht, hängt im Wesentlichen von der Spannung dieser Hülle ab.

SPIEGEL ONLINE: Kann ich Faszien trainieren?

Schleip: Bei den meisten sportlichen Betätigungen werden die Faszien mittrainiert. Das Problem ist aber: Das Bindegewebe wächst langsamer als Muskeln und wird so häufig überbelastet. Faszientraining ersetzt das normale Kraft- und Ausdauertraining nicht, sondern ergänzt es.

SPIEGEL ONLINE: Wie merke ich, dass meine Faszien nicht richtig intakt sind?

Schleip: Wenn Sie einen jugendlichen, federnden Laufstil haben, kann man davon ausgehen, dass die Faszien auch in jugendlicher Form und Architektur sind. Aber wenn man das Gefühl hat, dass sich der Körper spröde oder teigig anfühlt, ist das kein gutes Zeichen. Die Achillessehnen von Antilopen oder Kängurus zum Beispiel haben eine hohe Elastizität. Sie funktionieren wie Sprungfedern. Vor wenigen Jahren haben Wissenschaftler entdeckt, dass wir Menschen eine ähnliche Veranlagung haben - zumindest in jungen Jahren.

SPIEGEL ONLINE: Was schädigt Faszien?

Schleip: Stubenhocken oder Überlastung. Wenn Sie ein Gelenk vergipsen - und das machen wir teilweise, wenn wir die Füße mit festem Schuhwerk kaltstellen - dann verfilzt das Fasziennetz. Ein ähnlicher Effekt entsteht, wenn wir uns überfordern. Ich bin eigentlich ein Anhänger des Barfußlaufens . Aber die jüngste Forschung hat gezeigt, dass dieser Weg zum natürlichen Laufen, der zurzeit propagiert wird, viel langsamer ablaufen muss. Das Bindegewebe braucht Zeit, und viele übertreiben es mit dem Barfußlaufen. Der Fuß kommt nicht mit - und dann kommt es zu Überlastungsschäden.

SPIEGEL ONLINE: Inwieweit wirkt sich das Bindegewebsnetz auch auf Rückenschmerzen aus?

Schleip: Man weiß, dass die Bandscheibe nur für eine geringe Anzahl von Rückenschmerzen verantwortlich ist, vielleicht geschätzte 20 Prozent. Bei den anderen 80 Prozent tappt man noch im Dunkeln. Als heißer Kandidat kommt jetzt die Lendenfaszie dazu, also die Umhüllungen der unteren Rückenmuskeln. Diese ist reichhaltig mit freien Nervenendigungen bestückt - und wartet quasi nur darauf, Schmerzen auszulösen. Auch Stressbotenstoffe können Faszien schädigen. Emotionale Grundspannungen, Stress, können dann offenbar ganze Körperregionen spröde und steifer werden lassen.

SPIEGEL ONLINE: Wie wirkt man dem entgegen?

Schleip: Alternative Heilmethoden wie Akupunktur, Osteopathie oder das sogenannte Rolfing, eine manuelle Behandlungsform, kommen dann ins Spiel - Methoden, die schnell unter Esoterikverdacht stehen. Doch Faszien wurden bis vor rund acht Jahren völlig vernachlässigt - weil man wenig quantitativ messen konnte. Bei Knochen können wir röntgen, und um die Aktivität von Muskeln zu untersuchen, setzen wir die Elektromygrafie (EMG) ein. Bei den Faszien konnte immer nur der Osteopath sagen, wo es sich subjektiv hart anfühlt. Das war nicht befriedigend. Aber jetzt gibt es neue Messinstrumente, die nicht esoterisch sind, die uns im Reagenzglas und vor allem im hochauflösenden Ultraschall zeigen, wie es aussieht.

SPIEGEL ONLINE: Wie bringen wir unsere Faszien in Bewegung?

Schleip: Generell spricht alles wieder für langkettige Dehnungen. Statt die Wade immer nur einzeln zu dehnen, sollte man auch mal das Gesäß, den unteren Rücken und idealerweise die Fußsohle mit dazu nehmen. In den vergangenen Jahren wurde die Vernetzung vernachlässigt. Muskeln sind nicht so stark miteinander vernetzt, aber das Bindegewebe umso mehr. Wozu wir jetzt wieder raten, ist zum Teil das, was unsere Großeltern gepredigt haben. Nur können wir es jetzt wissenschaftlich erklären.

SPIEGEL ONLINE: Ausdauer-, Kraft- und jetzt auch noch Faszientraining - es wird ja immer anstrengender, sich fit zu halten.

Schleip: Das Faszientraining  sollte man nicht übertreiben. Ein- bis zweimal die Woche reicht völlig aus. Das Gute ist: Sie müssen die Faszien nur einmal ordentlich stimulieren, dann wird in den nächsten 72 Stunden frisches, neues elastisches Collagen produziert. Wir wissen aber noch nicht, ob fünf Hüpfer reichen oder 20, aber sie müssen keine 300 machen.

SPIEGEL ONLINE: Angeblich gehen Sie jeden Morgen auf den Spielplatz und hangeln wie ein Affe an einem Klettergerüst herum. Sieht so modernes Faszientraining aus?

Schleip: Na ja, ab und zu lasse ich mich ein bisschen hängen. Das macht Spaß. Es geht aber eher darum, dass man seine Bewegungen ein bisschen variiert und sie nicht immer nur in der angeblich korrekten Ausführung ausübt. Das Fasziennetz liebt wohldosierte Winkelvariationen.

Das Interview führte Frank Joung
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