Bewegungsanalytiker "Wir sollten mehr auf unser Fußgefühl hören"

Ohne Schuhe: "Wenn es nach mir ginge, würde die Welt mit Rasen ausgelegt und alle würden barfuß gehen"
Foto: Corbis
Björn Gustafsson ist ein ehemaliger Profi-Triathlet. 1989 wurde er Junioren-Weltmeister. Bereits mit 23 Jahren musste er seine Karriere wegen einer Überlastungsverletzung beenden. Nach dem Studium der Sportwissenschaft widmete er sich ganz der Bewegungsanalyse und gründete sein Unternehmen currex GmbH. Gustafsson gilt als Experte auf seinem Gebiet und ist Co-Autor der "Laufbibel".
SPIEGEL ONLINE: Herr Gustafsson, der Laufschuhkauf wird immer komplizierter. Angeblich benötigt man eine ausführliche Bewegungsanalyse . Ist das wirklich nötig?
Gustafsson: Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits sehe ich sehr interessante Dinge, wenn ich Leute mit drei Kameras aus unterschiedlichen Positionen beim Laufen filme. Und gerade für Spitzenathleten, die ihre Leistungen verbessern wollen oder verletzt sind, ist das sehr hilfreich. Andererseits wird oft eine unnötige wissenschaftliche Dogmatik betrieben.
SPIEGEL ONLINE: Vor allem, wenn man nur einmal die Woche eine halbe Stunde im Park laufen gehen möchte?
Gustafsson: Richtig. Diese Laufanfänger brauchen erst einmal keine Bewegungsanalyse. Fast alle Schuhe ab 90 Euro sind eine gute Basis. Damit macht sich keiner die Füße kaputt.
SPIEGEL ONLINE: Studien besagen, dass die Verletzungsgefahr minimiert wird, wenn der Läufer seine Schuhe als komfortabel empfindet. Versteht nicht jeder unter Komfort etwas anderes?
Gustafsson: Komfort ist sehr individuell und damit undefiniert. Die meisten denken bei Komfort an Weichheit. Ein spartanischer Schuh kann aber auch komfortabel sein. Es geht um funktionelle Stabilität, die eigene Sinneswahrnehmung und Sensorik.
SPIEGEL ONLINE: Das heißt, wenn ich finde, dass ein Schuh bequem ist, ist es der richtige?
Gustafsson: Jein. Natürlich zählt in erster Linie das persönliche Empfinden. Aber es ist nicht einfach - auch, weil die Hersteller ihre Tricks haben, wie sie dem Kunden beim ersten Anprobieren das Gefühl geben, dass der Schuh bequem ist.
SPIEGEL ONLINE: Wie machen die Firmen das?
Gustafsson: Wenn die Hersteller den Schuhboden konkav, also gewölbt, bauen, empfindest du das als angenehm. Aus orthopädischer Sicht ist es aber Mist, weil der Fuß nicht gerade liegt, sondern wie in einer Hängematte. Der Kunde kann also nach so einer kurzen Anprobe gar nicht einschätzen, ob der Schuh gut für ihn ist.
SPIEGEL ONLINE: Und wie erkennt der Kunde dann, ob ein Schuh gut für ihn ist?
Gustafsson: In der momentanen Wissenschaft dreht sich alles um Komfort, Komfort, Komfort. Schwierig - weil jeder was anderes will. Aber das ist es eben. Du steigst in den Schuh und er fühlt sich gut an. Da zählen auch eigene Erfahrungswerte. Der eine mag es hart und passend, der andere lieber etwas weicher und mit mehr Platz für den Vorfuß. Ich selbst stehe eher auf eine flachere und festere Sohle mit wenig Schnickschnack im Schaft, im oberen Aufbau.
SPIEGEL ONLINE: Die Schuhtechnik wird immer ausgereifter, unser Körper hingegen degeneriert scheinbar. Kaschiert immer mehr Hightech-Equipment Schwächen des Bewegungsapparates?
Gustafsson: Wenn es nach mir ginge, würde die Welt mit Rasen ausgelegt und alle würden barfuß gehen. Leider ist die Welt aber asphaltiert. Physiotherapeuten sagen immer: Du musst Fußgymnastik machen und abends mit den Zehen ein Handtuch greifen. Aber in der Realität machen das die wenigsten. Also: Wir benötigen Schuhe im Alltag und im Sport, nur das Paradigma der Orthopädie ist seit Jahrzehnten falsch.
SPIEGEL ONLINE: Welches Paradigma meinen Sie?
Gustafsson: Die Grundidee der Orthopädie war lange: Wir müssen den Fuß stützen, stemmen, einmauern, damit wir ihm etwas Gutes tun. Das ist falsch und überholt. Früher haben die Ärzte auch Arm und Bein eingegipst - heute machen sie das größtenteils nicht mehr. Der Körper muss selbst arbeiten können.
SPIEGEL ONLINE: Die teuren Maßeinlagen vom Orthopäden bringen nichts?
Gustafsson: Es gibt da natürlich Unterschiede, aber die Wirkungsweise der guten alten Kork-Leder-Einlage auf Rezept ist wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Ein Beispiel: Früher haben die Ärzte gedacht, dass Flachfüße problematisch seien. Der Orthopäde hat dir eine Einlage geschustert, die den Fuß wieder aufrichtet. Du legst die Einlage in den Schuh und läufst - nach drei Kilometern hast du eine Blase unterm Fuß, weil die Einlage so hart ist. Das habe ich damals als Leistungssportler selbst erlebt. Meine Füße haben geblutet. Und was sagt der Orthopäde oder Arzt? 'Daran gewöhnst du dich.' Aber das ist Schwachsinn.
SPIEGEL ONLINE: Was würde man heute mit einem Flachfuß machen?
Gustafsson: Wenn er keine Probleme macht - gar nichts. Früher dachte man, dass Flachfüße nach innen knicken, tun sie aber gar nicht. Flachfüße sind eigentlich gut. Viele afrikanische Läufer haben Flachfüße - und keine Probleme.
SPIEGEL ONLINE: Was bewirken harte Einlagen?
Gustafsson: Es gibt den habituellen - also gewohnheitlichen - Bewegungspfad. Das ist die Bewegungsausführung eines Gelenkes, die am wenigsten Widerstand erzeugt. Wer auf diesem Pfad bleibt, bewegt sich ökonomisch und effizient. Das Ansinnen der Orthopädie ist, einen Störer in diesen Pfad zu setzen. Nur leider können dann wieder an Körperstellen Probleme auftreten, weil ich in ein Ausweichmuster verfalle. Durch eine harte Einlage ändert nur der Fuß isoliert seine Stellung. Man kann den Körper aber nicht von unten aufrichten, das müssen die Muskeln tun.
SPIEGEL ONLINE: Was kann ich dann tun, um meinen Bewegungsablauf zu verbessern?
Gustafsson: Es geht um die neuro-muskuläre Ansteuerung. Als Bewegungsanalytiker will ich bestimmte nervliche, "falsche" Bewegungsmuster aufbrechen und einen "besseren" Ablauf lernen. Das muss zu 70 Prozent aktiv passieren - über üben.
SPIEGEL ONLINE: Schuhe und Einlagen spielen also für die Vermeidung von Verletzungen nur eine untergeordnete Rolle?
Gustafsson: Entscheidend ist der Muskel- und Haltungsapparat. Von unten kann man höchstens ein wenig nachhelfen, damit es sich besser anfühlt. Schuhe und Einlagen sollten flexibel sein und dem Fuß die natürliche Pronation, also die Drehung des Fußes nach innen als Teil der körpereigenen Dämpfung, erlauben. Es gibt kein Rezept. Woran wir festhalten können, ist: Wer sich am Fuß komfortabel, also bequem in seinen Schuhen fühlt, ist weniger verletzt. Deshalb sollten wir mehr auf unser individuelles Bauch- und Fußgefühl hören als auf Stimmen von außen.