US-Frühsportbewegung "Wie eine verrückt-fröhliche Sekte"

Während andere noch friedlich schlummern, laufen, hüpfen und brüllen die Anhänger des "November Projects" durch New York. Ellen-Jane Austin hat die US-Frühsportbewegung ausprobiert.
NYC Tribe: Obligatorisches Gruppenbild am Schluss

NYC Tribe: Obligatorisches Gruppenbild am Schluss

Foto: November Project NYC

Frühmorgendliche Dunkelheit umhüllt die Stadt, als ich mit anderen müden Gestalten durch die Hochhausschlucht der 86th Street in Manhattan ziehe. Es ist viertel nach sechs, dank einer Facebook-Seite habe ich Googlemaps-Koordinaten und eine Uhrzeit, sonst nichts.

An einer Ampel entdecke ich zwei Mädels Mitte Zwanzig mit Pferdeschwanz und Sportklamotten - auf ihren Oberteilen stehen die Worte "November Project" . Ich spreche sie an, denn so nennt sich die rasant wachsende Frühaufsteher-Fitness-Bewegung in den USA, zu der ich heute will, auch wenn gerade nicht November ist. Anders als der Name vermuten lässt, findet das Training das ganze Jahr über statt.

Meine neuen Bekanntschaften sind gebürtige New Yorkerinnen und schon seit mehr als einem Jahr bei "NP", wie sie es nennen. "NP" habe ihr Leben verändert. Sie seien viel aktiver geworden. "NP" sei ein großartiger Weg, um tolle Leute kennenzulernen, schwärmen sie - und ich werde herzlich umarmt. Was sie erzählen, klingt begeisternd, aber die plötzliche Nähe und der für mich Mitteleuropäerin ungewohnt ausgeprägte Enthusiasmus machen mir ein wenig Angst.

Fit ohne Fitnessstudio

Die Geschichte von "NP" beginnt im Winter 2011. Brogan Graham und Bojan Mandaric wollten fit bleiben, aber nicht für ein Fitnessstudio zahlen. Sie beschlossen im November jeden Wochentag um 6:30 Uhr zusammen zu trainieren - und twitterten ihren Plan. So wurde aus dem morgendlichen Training zweier Freunde aus Boston eine Art Fitnesskult.

Über Wochen und Monate kamen immer mehr Sportwillige dazu - heute gibt es "NP"-Gruppen in 29 Städten in den USA, Kanada und sogar Serbien und Island. Zwei bis drei Mal die Woche treffen sich die Sportwilligen für ein einstündiges Workout - egal bei welchem Wetter. Um mitzumachen, muss man nur hingehen.

Während wir die Straße entlanglaufen, passieren uns fröhlich grüßende, verschwitzte Menschen. "Die kommen von der 5:30 Uhr Gruppe - das ist uns zu hart", sagt eines der Mädels. Als wir den Carl-Schurz-Park betreten, sehe ich einen Schwarm von rund 80 Menschen in bunten Sportklamotten.

Noch während ich meine Jacke in meinen Sportbeutel packe, nimmt ihn mir ein drahtiger Hipster-Bartträger ab, um ihn in die Höhe zu reißen und in die Gruppe zu rufen: "Kann sich bitte jemand hierum kümmern? Danke." Später erfahre ich: Er ist Paul, einer von drei Stammesführern (Tribe Leader) in New York. Ja, Stammesführer - die "NP"-Gruppen der jeweiligen Städte nennen sich "Tribes" (Stamm).

Hand in Hand im Kreis der Neulinge

Bevor wir mit dem Training loslegen, stehe ich plötzlich Hand in Hand im Kreis mit Paul, zwei schlanken Frauen Mitte 30 in pinken und grünen Sporttops und einem kräftigen Mann um die 60 - in brauner Joggingmontur aus den Siebzigern. Mein Co-Neulinge schauen so unsicher in die Runde, wie ich mich fühle. Um uns bilden sich immer weitere Kreise, bis wir von einem dichten Menschenhaufen umringt sind - wie in einem Huddle beim American Football.

Der Anfangskreis

Der Anfangskreis

Foto: November Project NYC

Paul fordert uns auf, nacheinander die Arme in die Höhe reißen und unseren Namen zu schreien. Ich rufe "Ellen" mit einem Kloß im Hals und die Meute antwortet mit einem monotonen, aber lauten "H-e-y, E-l-l-e-n". Und dann hüpfen wir. Und brüllen. "Good Morning!", "Wake up!", während die Sonne leise über dem anliegenden East River aufgeht. Jetzt macht der Begriff "Stamm" Sinn - ich komme mir vor wie bei den Kelten, die sich für eine Schlacht bereit machen. Mit dem Unterschied, dass wir den Tag sehr wahrscheinlich alle überleben werden.

Wir laufen, machen Planks und Trizeps-Dips , feuern uns gegenseitig an und umarmen uns schwitzend, was mir nicht immer angenehm ist. Und wir fluchen - nicht nur, weil die Muskeln brennen. Bei der Übung "Fuck, yeah" macht man mit einem Partner gegenüber synchron Liegestütze. Wenn man oben ist, wird abgeklatscht und gebrüllt: "Fuck, yeah!".

"Fuck, yeah!" Liegestütze

"Fuck, yeah!" Liegestütze

Foto: November Project NYC

Erst bin ich etwas überfordert mit der unerwarteten Interaktivität, aber nach ein paar Minuten hat mich die Gruppendynamik gepackt und ich bin überrascht zu hören, wie mein "Fuck, yeah!" immer lauter wird. Nach einer Stunde Action wird mein hochroter Kopf mit "Awesome Job!" und noch mehr Umarmungen beglückwünscht. Es wird das obligatorische Gruppenfoto gemacht - und ich hänge an den Lippen der Stammesführer, um die nächste Trainings-Location zu erfahren.

Eine verrückt-fröhliche Sekte

Hätte man mir diese Szenen vorab beschrieben, ich hätte gesagt, dass dieses US-Party-Bootcamp-Style-Training nichts für mich ist. Aber als ich gefragt werde, ob ich jetzt öfter komme und verneinen muss, merke ich, dass ich enttäuscht bin. Nur noch zwei "NP"-Termine schaffe ich, bis ich zurück nach Deutschland fliege. Dabei wünsche ich mir jetzt, Teil der Gruppe zu sein und immer wieder hüpfend Schlachtrufe zu brüllen. Es kommt mir vor, als sei ich in eine verrückt-fröhliche Sekte geraten - aber in keine gruselige, sondern in eine gute, die nicht mein Geld will, sondern meinen Schweiß und meine Gesellschaft.

Die Kostenfreiheit und Unverbindlichkeit für die Mitglieder machen es leicht, einzusteigen, aber auch wieder auszusteigen. Man hat keinen monetären Schaden, wenn man nicht hingeht. Was auf dem Spiel steht, ist die soziale Stellung in der Gruppe. Auf der "NP"-Website werden in der Kategorie "We Missed You"  (wir haben dich vermisst) humoristisch peinliche Fotos und ironische Texte veröffentlicht, wenn jemand trotz fester Zusage das Training schwänzt. Die Bilder kommen von Freunden oder den Facebook-Seiten der Abwesenden. Angst vor Scham kann ein wirksamer Motivator sein.

Ich denke aber, es ist das Gemeinschaftsgefühl, das besonders motiviert. Teil davon sind sicher auch die mir anfangs so ungeliebten, ständigen Umarmungen. Laut der amerikanischen Familientherapeutin Virgina Satir brauchen wir sie jeden Tag. Vier, um zu überleben, Acht, um zu leben und Zwölf, um zu wachsen.

Nach den letzten Jubelrufen und Umarmungen zerstreut sich die Gruppe in alle Himmelsrichtungen. Ich bin wieder alleine zwischen den hupenden Taxen und eilenden Passanten der erwachten Großstadt. Und ich freue mich - auf übermorgen, 6:30 Uhr. Fuck, yeah!

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