Selbsthilfe-App-Erfinderin "Ich war ein Mängelexemplar"

Kristina Wilms
Foto: Kristina WilmsSPIEGEL ONLINE: Frau Wilms, wann haben Sie gemerkt, dass bei Ihnen psychisch etwas schieflief?
Wilms: Ich war schon immer sehr unglücklich. Freude war für mich nie ein Zustand von Dauer, ich erlebte sie nur zufällig, wenn etwas Tolles passierte. Dazu kam vor ein paar Jahren eine Phase, in der ich nicht mehr leben wollte.
SPIEGEL ONLINE: Sie waren nicht nur einfach mal traurig.
Wilms: In meinem Kopf war alles schwarz. Das Schlimmste ist das Gefühl, dass es keinen richtigen Grund für die Trauer gibt. Es war so, als würde die Energie aus mir herausfließen. Und ich hatte keine Kraft, den Prozess aufzuhalten. Da kommt eine tiefe Verzweiflung auf, das macht einfach Angst. Ich wusste nicht, was Depression ist und schob alles auf meine persönliche Inkompetenz: Ich bin unfähig, ich bin nicht gut genug, ich bin ein Mängelexemplar. Das war mir natürlich peinlich. Man will den Leuten ja nicht erzählen, dass man nicht mal mehr lesen kann und das ganze Wochenende durchgeheult hat.
SPIEGEL ONLINE: An Depressionen Erkrankte können oft die einfachsten Dinge nicht mehr tun. Wie haben Sie das Negativkarussell gestoppt?
Wilms: Ich hatte einen großen Willen, gesund zu werden. 2012 verbrachte ich zehn Wochen in einer Klinik: Dort diagnostizierte man mir eine chronische Depression und ich verstand, dass dies eine Krankheit ist, die man heilen kann. Rational betrachtet gehe ich aber nicht davon aus, dass die Krankheit irgendwann komplett weg ist. Manchmal fühle ich mich immer noch wie ein fünfjähriges Kind. Aber ich kann mittlerweile mit meinen depressiven Phasen umgehen, das ist das Wichtige.

Kristina Wilms, 29, leidet seit sie denken kann an einer chronischen Depression. Zunächst fraß ihre Krankheit sie von innen auf. Dann aber schaffte sie es, ihre Depression zu bändigen und eine App zu entwickeln, die anderen psychisch Erkrankten helfen soll.
SPIEGEL ONLINE: Sie brachten trotz Ihrer Depression die Energie auf, eine App zu entwickeln , die psychisch Kranken helfen soll.
Wilms: Ich wollte aus der Krankheit und meinen Erfahrungen etwas Positives erschaffen. Mit der App kann man sich besser kennenlernen, seine Verhaltensmuster und Emotionen kontrollieren und Sicherheit gewinnen: Wie geht es mir? Wie fühlt sich mein Körper an und was sind meine Gedanken? Man protokolliert seinen Tagesverlauf, eine Art Gefühlstagebuch. Erkrankte entwickeln so einen Blick für bestimmte Situationen, zum Beispiel: Montagnachmittags geht es mir immer schlecht - vielleicht liegt das ja daran, dass ich dienstags immer ein Gespräch mit meinem Chef habe.
SPIEGEL ONLINE: Eine Depression wird die App nicht einfach heilen können.
Wilms: Online-Therapie kann meiner Meinung nach eine echte Therapie nicht ersetzen. Und eine Beziehung zum Therapeuten kann man nicht gegen ein digitales Tool eintauschen. Als Erkrankter muss man an die Hand genommen werden, um die nötigen Heilungsschritte zu durchlaufen und um sich zu entwickeln.
SPIEGEL ONLINE: Die App ist also eher ein stiller Begleiter im Leben neben der Therapie?
Wilms: Meine Vision ist, ein Tool zu erschaffen, das mich befähigt, mein Leben in meine eigenen Hände zu nehmen. Neben der Selbstbeobachtung erledigen die Benutzer therapeutische Hausaufgaben: Die App erinnert sie, bestimmte soziale Situationen zu suchen oder Aufgaben zu erledigen - etwa, sich etwas Gutes zu tun. Das Ziel ist, ein Medizinprodukt auf den Markt zu bringen, das Teil der Regelversorgung bei Depressionen ist. Das Smartphone habe ich ja eh immer bei mir. Insofern bietet es sich einfach an als Brücke für den Transfer von therapeutischen Aufgaben in den Alltag.
SPIEGEL ONLINE: Sport soll auch gegen Depressionen helfen: Erfolgserlebnisse beim Laufen, positive Auswirkungen der Bewegung auf Selbstbewusstsein und Fitness.
Wilms: Wenn ich depressiv bin, dann vergeht die Zeit nur ganz langsam. Da ist es hilfreich, den Tag mit etwas zu füllen, das mich kognitiv nicht anstrengt. Beim Sport schalte ich den Kopf aus, das Gedankenkarussell kommt zum Halt. Und ich habe einfach was zu tun: Laufen, Fahrradfahren und Schwimmen sind simple Bewegungen. Auch wenn im Kopf nichts geht, Sport geht immer.
SPIEGEL ONLINE: Bewegung als Depressionshemmer: Wird da nicht das Krankheitsbild runtergespielt?
Wilms: Dass man eine Depression nur mit Sport behandeln kann, ist Quatsch. Ein Therapeut ist unersetzlich. Psychische Krankheiten sind ernst zu nehmen und gehören mit körperlichen Krankheiten gleichgesetzt. Mir geht es selbst trotz Sport manchmal schlecht. Vielleicht ginge es mir aber noch viel schlechter, würde ich nicht täglich laufen gehen (lacht). Sich für Sport zusammenzureißen ist zwar wichtig, aber damit ist die Krankheit nicht auf einmal verschwunden. Deshalb bin ich auch auf der Mut-Tour mit anderen Depressionskranken quer durch Deutschland geradelt, um Aufmerksamkeit auf das Thema Depression zu lenken.
SPIEGEL ONLINE: Was soll die Mut-Tour bezwecken?
Wilms: Viele Erkrankte schämen sich für ihre Depression ob der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz für das Krankheitsbild. Mit der Mut-Tour helfen wir Depressiven uns gegenseitig. Sie fördert auch den Austausch unter Betroffenen und nicht Betroffenen, die ebenfalls mitfahren. Das hilft den Erkrankten - und bringt das Thema Depression in die Öffentlichkeit.
SPIEGEL ONLINE: Eine Radtour nach dem Motto: Rauf auf den Sattel, raus aus der Depression?
Wilms: Ich habe da mitgemacht, als ich mich in einer Krise befand. Da haben mir schon die Struktur, das frühmorgendliche Aufstehen und der bewertungsfreie Umgang gutgetan. Ich dachte damals noch, ich wäre die Einzige, die mit diesen Gefühlen rumrennt. Aber dort merkte ich, dass es wirklich Krankheitssymptome sind, die auch andere haben und dass es nicht an meinem Charakter liegt.