Laufprogramm für Drogenabhängige "Wir sind wie eine neue Familie"

Craig Mitchells Skid Row Running Club
Foto: Mark Hayes
Craig Mitchell war 17 Jahre lang High-School-Lehrer in South Central Los Angeles, bevor er Haftrichter wurde. Mitchell gründete 2012 den Skid Row Running Club als Rehabilitationsprogramm für Drogenabhängige. 2017 entstand die preisgekrönte Dokumentation "Skid Row Marathon" .
SPIEGEL ONLINE: Herr Mitchell, haben Sie ein schlechtes Gewissen?
Mitchell: Nein, wieso?
SPIEGEL ONLINE: Als Strafrichter schicken Sie Menschen ins Gefängnis, um anschließend Drogenabhängigen und Ex-Sträflingen in Los Angeles mit einem Laufprogramm zu helfen. Das klingt nach dem Versuch der Selbstheilung.
Mitchell: Dass ich Leben und Familien auseinanderreiße, ist milde ausgedrückt. Natürlich sind die Menschen an ihren Verbrechen schuld, aber ich bin es, der sagt: "Du musst für den Rest deines Lebens ins Gefängnis." Es reinigt meine Seele ein wenig, Menschen aus meist dysfunktionalen Familien mit dem Skid Row Running Club helfen zu können. Das Laufen hilft auch mir, mit diesen ganzen Emotionen und Geschichten umzugehen.
SPIEGEL ONLINE: Wie kam es zu dem Laufklub?
Mitchell: Vor fünf Jahren wurde ein von mir verurteilter Straftäter auf Bewährung nach Skid Row entlassen - eine Gegend in Los Angeles, in der etwa 15.000 Obdachlose in Zelten oder Papphütten leben. Die amerikanische Mülldeponie für Menschen, deren Leben den Bach runtergegangen ist. Mehr als die Hälfte von ihnen sind drogenabhängig, viele meiner Mordfälle stammen daher.
SPIEGEL ONLINE: Wie ging es weiter?
Mitchell: Dieser Ex-Sträfling lud mich in die Midnight Mission in Skid Row ein, wo Obdachlose und Drogenabhängige unterstützt werden. Vor Ort überlegten wir, wie ich dazu beitragen könnte, die Leben dieser Menschen zu verbessern. Ich schlug vor, ein Laufprogramm zu gründen, 2012 ging es los. Jetzt laufen wir dreimal pro Woche, früh am Morgen oder spät am Abend.
SPIEGEL ONLINE: Eine Drogensucht zu überwinden, ist schwierig. Auf welche Weise kann Laufen helfen?
Mitchell: Wer läuft, muss Disziplin aufbringen und den Fokus auf langfristige Ziele setzen. Das sind essenzielle Dinge für Menschen, die alles verloren haben. Laufen hilft ihnen, ihr Leben zu restrukturieren und wiederaufzubauen.

Einige Teilnehmer sind zum Marathon nach Rom gereist
Foto: Mark HayesSPIEGEL ONLINE: In welcher körperlichen Verfassung kommen Drogenabhängige zu Ihrem Laufklub?
Mitchell: Es ist natürlich phänomenal ungesund, Drogen zu nehmen. Anfangs ist es für viele schwer, unsere Läufer haben meist Jahrzehnte in der Drogensucht verbracht. An den Terminen unter der Woche laufen wir deshalb nur acht Kilometer. Niemand wird zurückgelassen, einer läuft immer das langsamste Tempo mit.
SPIEGEL ONLINE: Entsteht beim gemeinsamen Laufen eine besondere Bindung?
Mitchell: Der Gemeinschaftssinn ist wahrscheinlich der wichtigste Teil des Programms. Unsere Läufer waren komplett allein, lebten entfremdet von ihren Familien, hatten Jobs und Karrieren verloren. Körperliche Anstrengung miteinander zu teilen, erschafft eine besondere Verbindung und unmittelbare Gemeinschaft. Wir sind wie eine neue Familie.
SPIEGEL ONLINE: Familie ist ein starkes Wort: Wie genau soll das passieren?
Mitchell: Von 40 Läufern sind etwa 20 Drogenabhängige und Ex-Sträflinge und 20 von der Gesellschaft akzeptierte Personen, Anwälte oder Medienschaffende zum Beispiel. Je nach Fitness bauen wir Zweierteams aus den beiden Gesellschaftsgruppen. Beim Laufen finden wichtige Gespräche statt. Viele Läufer laden ihren emotionalen Ballast ab, ihre Suizidgedanken, ihre Familienprobleme, ihre Existenzängste. Es entsteht eine Würdigung und ein Verständnis, dass die Unterschiede nicht so groß sind zwischen uns.
SPIEGEL ONLINE: Drogenabhängige sind marginalisiert in unseren Gesellschaften, aber beim Laufen ist jeder gleich. Geht das wirklich so einfach?
Mitchell: Für Menschen, die gegen ihre Drogenabhängigkeit kämpfen, ist es sehr wichtig zu sehen, dass es Leute gibt, die sie und ihr Potenzial sehen und wertschätzen. Wir verbringen immerhin bis zu zehn Stunden pro Woche zusammen. Wir schwitzen zusammen, unterhalten uns auf Augenhöhe. Auf der Marathonstrecke bin ich nicht Richter Mitchell, ich bin ein 61-jähriger Typ, der versucht, sich 42 Kilometer bis ins Ziel zu schleppen.
SPIEGEL ONLINE: Was motiviert Sie persönlich, morgens um sechs mit Obdachlosen und Drogenabhängigen zu laufen?
Mitchell: Freundschaft. Viele Leute aus meinem Arbeitsfeld haben eine übertriebene Selbstliebe und einen Hang zur Selbstdarstellung. Auf der Skid Row herrscht Echtheit und Aufrichtigkeit.