
Geheimnis des Extremläufers Dean Karnazes "Der Mann ist ein Ausreißer"
SPIEGEL ONLINE: Herr Bloch, die meisten Sportler kennen das Gefühl nach einem harten Training: Muskelkater - ein gutes oder schlechtes Zeichen?
Bloch: Muskelkater ist eine mindere Verletzung der Muskeln, bei der Strukturen im Muskel zerstört werden. Die müssen Sie wieder aufbauen. Das ist nicht schlimm, solange es nicht ständig vorkommt, aber Sie müssen dem Körper Zeit geben, sich wieder zu erholen. Ihr Körper ist wie ein Haus. Wenn Sie ihr beschädigtes Haus nicht reparieren, funktioniert vieles nicht mehr, und es sieht fürchterlich aus.
SPIEGEL ONLINE: Dean Karnazes, einer der berühmtesten Ultramarathonläufer der Welt, scheint ein sehr intaktes "Haus" zu haben. Der Mann läuft 50 Marathons in 50 Tagen oder drei Tage lang am Stück, ohne zu schlafen. Und hat nie Muskelkater, sagt er.

Wilhelm Bloch, Jahrgang 1959, ist seit 2004 Leiter der Abteilung für molekulare und zelluläre Sportmedizin der Deutschen Sporthochschule Köln. In seiner Freizeit läuft er gerne, obwohl er lieber mehr Basketball spielen würde. Dazu fehlt ihm aber die Zeit.
Bloch: Dieser Läufer hat sicherlich eine Muskulatur, die auf eine aerobe Energiegewinnung ausgerichtet ist und die sehr effizient arbeitet.
SPIEGEL ONLINE: Hat der Mann einfach gute Gene?
Bloch: Diese außerordentlichen Leistungen sind nur zum Teil genetisch erklärbar. Denn unsere Gene geben uns nur einen Rahmen vor, auf den wir aber Einfluss haben. Durch Belastung und Training können wir bestimmte Gene in Zellen aktivieren, also an- oder abschalten und damit auch Leistungsfähigkeit modulieren.
SPIEGEL ONLINE: Eins ist sicher: Karnazes schöpft seinen genetischen Rahmen aus.
Bloch: Es sieht so aus, ja. Aber der Mann ist eine Ausnahme, ein Ausreißer. Hier trifft richtiges Training auf gute genetische Voraussetzungen. Zu diesen Leistungen ist nicht jeder von uns fähig.
SPIEGEL ONLINE: Was faszinierend ist: Karnazes läuft nicht nur sehr lang und ausdauernd, sondern auch schnell. Den letzten seiner 50 Marathons, den New-York-Marathon, lief er in drei Stunden.
Bloch: Das ist exorbitant gut, keine Frage. Aber für einen Spitzensportler physiologisch gesehen schon machbar.
SPIEGEL ONLINE: Mediziner, die Karnazes untersucht haben, waren beeindruckt von seiner Fähigkeit, Laktat abzubauen und in Energie umzuwandeln. Was heißt das genau?
Bloch: Es spricht viel dafür, dass er beim Laufen wenig Laktat produziert und das Laktat auch wieder gut verwerten kann. Er wählt die Belastung so, dass er nicht an seine Leistungsgrenze kommt und seine Muskeln nicht "übersäuern". Dies erklärt auch, dass die Muskeln nicht schlappmachen. Bei gut trainierten Läufern wird auch das Laktat in andere Muskeln, die weniger belastet sind, ausgeschleust und über den aeroben Weg Energie gewonnen.
SPIEGEL ONLINE: Karnazes ist also so gut trainiert, dass er auch bei hohen Geschwindigkeiten nicht an seine maximale Leistungsgrenze gelangt. Er hat keine muskulären Probleme, weil seine Muskeln ständig gut mit Sauerstoff versorgt sind, und das wenige Laktat, das er produziert, kann er auch noch gut in Energie umsetzen. Klingt perfekt.
Bloch: Ja, er hat den Prozess optimiert, sonst könnte er solche Leistungen nicht bringen, aber jede Optimierung hat Grenzen. Sie machen aus einem VW Golf keinen Porsche.
SPIEGEL ONLINE: Wie muss ich als Freizeitsportler mein Training angehen, dass diese Prozesse optimiert werden?
Bloch: Sie müssen das Training so gestalten, dass möglichst viele Fette verbrannt werden. Denn das Problem bei langen Belastungen ist, dass dem Körper nicht so viele Kohlenhydratreserven zur Verfügung stehen. Man benötigt einen alternativen Brennstoff: Fettsäuren, Lipide. Ein gut trainierter Läufer kann bei bestimmten Laufgeschwindigkeiten aus dem Pool der Fette zehren. Afrikanische Läufer etwa haben ein sehr gutes Verhältnis von Kohlenhydrat- zu Fettverbrennung. Den Kohlenhydratspeicher nutzen sie nur, wenn Sie richtig schnell laufen müssen. Beim Marathon laufen sie zu 75 bis 80 Prozent über Fette.
SPIEGEL ONLINE: Unter Marathonläufern heißt es: Der wichtigste Muskel ist der Kopf. Kann der Wille den Körper dazu zwingen, mehr Leistung zu bringen, als er eigentlich imstande ist?
Bloch: Nein, das maximale Leistungsvermögen des Körpers kann man nicht weiter ausdehnen. Aber im Normalfall erreichen Sportler nicht ihre maximale Leistungsfähigkeit, weil der Körper vorher seinen Schutzmechanismus aktiviert, so dass Reserven für den Notfall bleiben.
SPIEGEL ONLINE: Kann ich diesen Schutzmechanismus umgehen?
Bloch: Sie können ihn durch akute Stimulation ausschalten. Bestimmte Dopingsubstanzen machen nichts anderes. Sie dienen dazu, die körperliche Leistungsfähigkeit stärker auszunutzen. Das Problem ist: Wenn ich ständig an meine Reserven gehe, zahlt mein Körper mir das zurück.
SPIEGEL ONLINE: Selbst Hobbyläufer werden bombardiert mit Zahlen: Laktatwerte, Herzfrequenz, Pulsmessungen. Was ist wirklich nötig?
Bloch: Laktatwerte spiegeln nur wieder, was im Blut ist. Wir wissen nicht, was in der Muskulatur passiert. Einige Menschen transportieren das Laktat viel schneller aus dem Muskel als andere. Außerdem ist es ungeeignet zur Steuerung des Trainings, weil man nicht ständig seine Blutwerte zur Hand hat. Auch Pulswerte variieren von Mensch zu Mensch. Es gibt nicht das eine Trainingsrezept für alle. Und die Werte, die in der Fachliteratur angegeben sind, sind immer nur Richtungswerte.
SPIEGEL ONLINE: Freizeitsportler müssen also nicht unbedingt zum Laktattest.
Bloch: Nein, aber eine ordentliche sportmedizinische Untersuchung, ein Leistungstest oder Spiroergometrie sind sinnvoll. Das ist kein großer Aufwand. Der Vorteil ist, dass Sie dann über Herzfrequenzen ihr Training steuern können - und zwar ganz individuell.