Zuckerersatz Süßstoff Stevia auf dem Prüfstand

Süßstoff Stevia: Kristallin oder als Tablette
Foto: Andrea Warnecke/ TMNSüßes essen und sich trotzdem gesund ernähren - davon träumen viele. Als die Europäische Kommission 2011 Steviolglykoside als Lebensmittelzusatzstoff zuließ, schien dieser Traum in Erfüllung zu gehen. Weil der Stevia-Süßstoff aus einer Pflanze gewonnen wird, kalorienfrei ist und keine Karies verursacht, galt er als Süßungsmittel der Zukunft.
Doch der Boom blieb aus. "Steviolglykoside sind ein Süßstoff wie jeder andere", sagt der Agrarwissenschaftler Udo Kienle, der sich an der Universität Hohenheim seit Jahren mit der südamerikanischen Pflanze Stevia rebaudiana und ihren Süßstoffen beschäftigt. Bei der Herstellung des Süßungsmittels werden die Steviolglykoside in einem chemischen Verfahren isoliert - und von den wertvollen Inhaltsstoffen der Steviapflanze getrennt. Die Steviolglykoside enthalten somit keine gesundheitsfördernden Bestandteile mehr.
"Die Annahme, dass Steviolglykoside natürlicher sind als andere Süßstoffe, ist falsch", meint Kirsten Metternich, Kochbuchautorin und gelernte Diätassistentin. Sie seien aber trotzdem eine Bereicherung für die Süßstofffamilie. Der Grund: Ihre besondere Süßkraft, die 200- bis 300-mal höher ist als die von Zucker. Schon mit einer geringen Menge Stevia, das auch für Diabetiker geeignet ist, lasse sich eine enorme Süße erzielen, so die Ernährungsexpertin. Sie empfiehlt für den Gebrauch zu Hause Flüssigsüße oder Granulat. Wichtig sei, sich genau an die Dosierungsempfehlungen zu halten, weil es sonst leicht zu süß werde. "Bei Stevia geht es um Messerspitzen", sagt Metternich.
Warum Stevia-Produkte wieder aus den Regalen verschwinden
Im Supermarkt gibt es Produkte wie Joghurt, Konfitüren oder Limonaden mit Stevia-Süße. Neue Produkte wie jüngst die Coca-Cola-Variante "Life" kommen in die Regale - andere, wie der Andechser "Stevia Bio-Jogurt", der mit Stevia-Tee gesüßt war, verschwinden wieder. Das Interesse an Stevia-Produkten sei aktuell nicht ausreichend vorhanden, heißt es zur Begründung bei der Andechser Molkerei Scheitz.
"Für die Industrie ist der Umgang mit Steviolglykosiden schwierig", sagt Agrarwissenschaftler Kienle. Das liegt zum einen am lakritzartigen Eigengeschmack von Stevia, der je nach Herstellungsverfahren variiert. Zum anderen am niedrigen sogenannten ADI-Wert. Er legt die gesundheitlich unbedenkliche maximale Tageshöchstdosis von Lebensmittelzusatzstoffen fest.
Wegen des niedrigen ADI-Wertes kann die Lebensmittelindustrie bei vielen Produkten nur etwa ein Drittel des Zuckers durch Steviolglykoside ersetzen. Für eine Erhöhung des ADI-Wertes wären neue Langzeitstudien mit Ratten notwendig.
Beim Kochen und Backen daheim ist der ADI-Wert normalerweise kein Problem. Wer ein Stück Kuchen isst, das ausschließlich mit Stevia-Süßstoff gesüßt ist, komme nicht in die Nähe des Höchstwertes, sagt Metternich. Wer aber täglich mehrere mit Stevia gesüßte Lebensmittel in größeren Mengen verzehrt, sollte aufpassen. Vor allem Kinder mit wenig Körpergewicht können an die ADI-Wert-Grenze oder darüber kommen, wenn sie beispielsweise viele gesüßte Limonaden trinken.
Süßes, grünliches Konzentrat
"Der Geschmack von Stevia harmoniert gut mit Nüssen und Gewürzen wie Zimt oder Anis", sagt Metternich. Wer den Eigengeschmack nicht mag, kann Steviolglykoside auch mit Zucker mischen, dann verliert er sich. Sind im Rezept 100 Gramm Zucker angegeben, empfiehlt die Backexpertin, diese durch 50 Gramm Zucker und einen halben bis einen Teelöffel Steviapulver zu ersetzen. Im Handel gibt es auch fertige Haushaltszucker, die mit Steviolglykosiden gemischt sind.
Die Steviapflanze selbst ist in der EU nicht als Lebensmittel zugelassen, da nicht für alle Pflanzenteile die aufwendigen erforderlichen Unbedenklichkeitsstudien vorliegen. In ihrer südamerikanischen Heimat wird die Pflanze aus der Familie der Korbblütler auch als Heilmittel geschätzt. Wer in den Genuss ihrer Inhaltsstoffe wie Kalzium, Magnesium und Chlorophyll kommen will, sollte sich selbst eine Pflanze ziehen, empfiehlt der Hamburger Garten- und Steviaexperte Peter Klock. Eine einzige Pflanze deckt Klock zufolge den "Zuckerbedarf" eines Menschen fürs ganze Jahr.
Für den Hausgebrauch empfiehlt er, die Blätter frisch - zum Beispiel als Tee - zu verwenden oder aus der Pflanze Steviapulver und Flüssigkonzentrat herzustellen. Für das Pulver werden die getrockneten Blätter fein zerrieben oder gemörsert. Für die Flüssigsüße Blätter und dünne Triebe gut waschen und mit reichlich Wasser aufkochen. Das Ganze dann weiter köcheln lassen, bis ein Großteil der Flüssigkeit verdunstet ist. Nach dem Abseihen bleibt das grünliche süße Konzentrat übrig.
Wer die Blätter schnell und einfach einsetzen will, dem rät Metternich, sie leicht zerpflückt zum Süßen in einen Kräutertee zu geben. Außerdem lassen sie sich als süße Komponente in einem Salatdressing verwenden. Für den privaten Gebrauch seien sie eine gute Natursüße.
Jeder Deutsche verzehrt im Durchschnitt 36 Kilo Zucker pro Jahr, das sind drei Kilo pro Monat. Die Löffel für Kaffee und Tee sind dabei die geringste Menge. Den meisten Zucker, rund 83 Prozent, verspeisen wir mit verarbeiteten Lebensmitteln wie Süßigkeiten, Backwaren, Milchprodukten oder Fertiggerichten. Das Problem: Der Körper gewöhnt sich an die durch diese Produkte vorgegebene Süße.
Ernährungsexpertin Elektra Polychronidou empfiehlt, die Süßschwelle langsam herunterzuregulieren: "Reduzieren Sie zum Beispiel nach und nach - über Monate - die Menge Zucker für den Kaffee, bis er irgendwann auch ungezuckert schmeckt. Bei selbst zubereiten Joghurts mit Obst und wenig Zucker oder Backrezepten mit einem Drittel weniger Zucker bestimmen Sie, wie viel Zucker aufgenommen wird." Ganz besonders wichtig: Möglichst häufig unverarbeitete Lebensmittel verwenden, das senkt den Zuckerkonsum am deutlichsten.