Weltweit sind mehr als 39 Prozent der Erwachsenen übergewichtig
Weltweit sind mehr als 39 Prozent der Erwachsenen übergewichtig
DER SPIEGEL

Weltweite Datenanalyse Wo 89 Prozent der Erwachsenen übergewichtig sind

Der Anteil an übergewichtigen Menschen hat sich laut WHO seit 1975 fast verdoppelt. Welche Länder besonders betroffen sind – und wo Fettleibigkeit eine neue Form von Mangelernährung ist.
Von Sophia Baumann
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Der Wecker klingelt, es ist viel zu früh. Aber die Zeit drängt: schnell aufstehen, anziehen. Und einen Snack aus dem Kühlschrank nehmen zum Frühstück. Mit viel Energie, die braucht man ja für die kommenden Stunden. Dann zur Arbeit. Entweder direkt ins Homeoffice oder mit dem Auto ins Büro. Sitzen bis zur Mittagspause. Sind nur 45 Minuten, also eine schnelle Mahlzeit. Wieder sitzen. Schließlich Feierabend. Essen, Sofa – war ein langer Tag.

Das ist der Alltag vieler Menschen auf der ganzen Welt, nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Und wohl die Ursache für eine besorgniserregende Entwicklung: 2016 waren laut Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa 39 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung übergewichtig.

Das bedeutet laut Definition der WHO, einen »Body Mass Index« (BMI) von 25 oder mehr zu haben (hier gelangen Sie zu unserem BMI-Rechner). Zwar ist der BMI nicht für jeden das richtige Maß, um Übergewicht zu messen, da er lediglich Größe und Gewicht betrachtet und daher zum Beispiel auch bei Sportlern mit viel Muskelmasse tendenziell sehr hoch ist. Aber weil der BMI so einfach zu berechnen ist, eignet er sich gut zum Vergleich von größeren Gruppen.

Die weltweiten Ergebnisse zeigen: Der Anteil Übergewichtiger hat sich im Vergleich zum Jahr 1975 zuletzt beinahe verdoppelt. Damals waren nur etwa 22 Prozent der Erwachsenen übergewichtig. Zur Jahrtausendwende waren es dann schon mehr als 30 Prozent, 2010 dann gute 35 Prozent.

Laut Matthias Blüher, Adipositas-Forscher am Helmholtz-Institut für Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung in Leipzig, liegt dieser Anstieg vor allem an unserer Lebensweise: der Überernährung, dem Bewegungsmangel. Wir nehmen zu viele Kalorien auf, oft auch flüssig über zuckerhaltige Getränke. Viele haben Arbeitsplätze, die kaum körperliche Aktivität fördern.

Und wir nutzen oft das Auto oder die öffentlichen Verkehrsmittel, anstatt zu laufen oder Fahrrad zu fahren. »Diese Fehlbalance zwischen Energieaufnahme und Energieverbrennen ist sicherlich das Hauptproblem«, sagt Blüher. »Und das ist ein gesellschaftliches Phänomen, das erst in den vergangenen Jahrzehnten aufgetreten ist.«

Schlange vor einem Fast-Food-Restaurant in Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam

Schlange vor einem Fast-Food-Restaurant in Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam

Foto: Paula Bronstein / Getty Images

Aber warum trifft es manche Länder heftig, während andere weniger Probleme mit Übergewicht haben? Neben genetischen Veranlagungen spielen wohl auch gesellschaftliche Faktoren eine Rolle: »Große soziale Unterschiede zwischen Arm und Reich begünstigen Adipositas«, sagt Blüher.

So haben zum Beispiel – das zeigen WHO-Daten von 2016 – die USA, wo die Einkommensungleichheit größer ist, mit beinahe 68 Prozent einen höheren Anteil an Übergewichtigen als Deutschland mit 56,8 Prozent. Dabei trifft Übergewicht laut Blüher häufiger sozial schwächere Familien und Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad.

Den höchsten Anteil Übergewichtiger haben aber nicht die USA. Auch nicht Mexiko oder Großbritannien. Sondern überraschenderweise: Nauru, Palau und die Cookinseln. Das sind Inseln im Südpazifik. »Wahrscheinlich liegt es daran, dass die moderne Lebensweise dort auf eine Bevölkerung getroffen ist, die besonders anfällig dafür ist«, sagt Adipositas-Forscher Blüher. Ein großer Anteil der Bevölkerung von Nauru, Palau und den Cookinseln ist wohl Träger von Risikogenen für Übergewicht.

Andere Bevölkerungen haben laut Blüher dagegen eher schützende Gene. So seien in Südkorea zum Beispiel nur etwa 30 Prozent der Erwachsenen übergewichtig.

Zusätzlich spielt bei der Entstehung von Übergewicht der Lebensstil eine wichtige Rolle. Und der hat sich laut Blüher auf den Inseln im Südpazifik besonders drastisch verändert, von einer ursprünglichen Lebensweise mit gesunder Ernährung und viel Bewegung hin zu einem westlichen Ess- und Bewegungsverhalten.

Das Ergebnis: Auf Nauru sind beinahe 89 Prozent der Erwachsenen übergewichtig. Auch auf Palau und auf den Cookinseln haben deutlich mehr als 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung einen BMI von 25 oder höher.

Das hat Folgen für die Gesundheit der Insulaner: So haben zum Beispiel auf Nauru fast 30 Prozent der Erwachsenen einen erhöhten Blutzuckerspiegel, rund 46 Prozent erhöhte Cholesterinwerte. Mit dem Übergewicht steigt auch das Risiko für Diabetes sowie Herz-Kreislauf- und bestimmte Krebserkrankungen.

Eine Gefahr für den Einzelnen, aber auch eine Belastung für das Gesundheitssystem: Die Folgeerkrankungen von Übergewicht verursachen Kosten – etwa für die Behandlung, den Arbeitsausfall und die Rehabilitation.

Laut Blüher trifft es besonders jene Länder hart, die bislang einen geringen Anteil an Übergewichtigen hatten und nun aber einen starken Anstieg verzeichnen. Denn man sei dort nicht auf die Probleme eingestellt.

Davon ist etwa Vietnam besonders betroffen: In dem südostasiatischen Land stieg der Anteil an übergewichtigen Menschen zwischen 2006 und 2016 von 13 Prozent auf 18 Prozent – eine relative Zunahme von 44 Prozent. Ähnlich hohe Werte erreichen auch Bangladesch und die Malediven sowie Vietnams benachbarte Länder Laos und Thailand.

Sie alle zählten bislang zu den Staaten, die eher kein Problem mit Übergewicht hatten. So war Vietnam 2016 das Land mit dem geringsten Anteil an erwachsenen Einwohnern mit Übergewicht. Dass die Länder von einem sehr niedrigen Niveau starten, liegt laut Blüher vermutlich an genetischen Faktoren, aber auch an einer höheren körperlichen Aktivität.

Traditionelles Streetfood: Frauen in Hanoi, Vietnam

Traditionelles Streetfood: Frauen in Hanoi, Vietnam

Foto: Matthew King / Getty Images

Dass nun ausgerechnet in diesen Ländern der Anteil Übergewichtiger schnell steigt, könnte aber ein Hinweis auf eine bestimmte Entwicklung ein: Dort verändert sich wohl die Lebensweise, darunter die Essgewohnheiten und das Bewegungsverhalten. Das wird auch deutlich, wenn man sich die Jüngsten der Gesellschaft anschaut. Waren im Jahr 2000 nur etwa 2,6 Prozent der unter Fünfjährigen in Vietnam übergewichtig, waren es 2017 schon 5,9 Prozent.

Weltweit hat sich das Gewicht von Kindern insgesamt verändert. Die gute Nachricht: Die Zahl an untergewichtigen Kindern hat stark abgenommen, sie schrumpfte von etwa 24,8 Prozent im Jahr 1990 auf etwa 13 Prozent im Jahr 2019. Für den Ernährungsmediziner Hans Konrad Biesalski ist das aber kein Grund zur Entwarnung – denn auch übergewichtige Kinder können mangelernährt sein. Und deren Anteil hat in den letzten Jahren stetig zugenommen.

»Übergewicht ist nur ein Zeichen von zu viel Energie«, sagt Biesalski. Das allein reicht für eine gesunde Ernährung nicht aus. »Da fehlt oft auch eine Menge an notwendigen Stoffen wie Vitamine, Minerale und Spurenelemente.« Besonders in Entwicklungsländern würden viele Kinder von Mais, Reis und Weizen ernährt – oder mithilfe des Essens von Fast-Food-Ketten, die sich deutlich ausgebreitet hätten. Obst, Gemüse und Fleisch seien dagegen häufig zu teuer.

Das Ergebnis dieser Ernährung: Die Kinder werden dick – sind aber trotzdem mangelernährt. Laut Biesalski leiden viele Kinder ein Leben lang an den Folgen. Oft seien sie kleiner, hätten weniger Kraft. Auch die kognitive Entwicklung könne eingeschränkt sein: »Armut führt auch zu Veränderungen und Störungen in der Gehirnentwicklung«, sagt der Ernährungsmediziner.

Biesalski fürchtet, dass die Mangelernährung durch die Corona-Pandemie noch zunehmen wird. Die Ziele, die sich die Uno im Rahmen der »Sustainable Development Goals« (SGDs) gesetzt haben, wie zum Beispiel den Hunger zu beenden, seien nicht mehr zu erreichen – obwohl die Lösung theoretisch einfach wäre. »Der Weg ist ganz simpel«, sagt Biesalski. »Wir müssen den Menschen ermöglichen, qualitativ bessere Ernährung zu einem Preis zu erwerben, der ihrem Einkommen entspricht.«

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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