Bitte einmal »Aaaaaa«: Wann sollten Mandeln entfernt werden?
Bitte einmal »Aaaaaa«: Wann sollten Mandeln entfernt werden?
Foto: Halfpoint / iStockphoto / Getty Images

Weitverbreitete Erkrankung Wann Kinder an den Mandeln operiert werden sollten

Viele HNO-Ärzte werden bei Kindern vorerst keine Mandel-OPs mehr durchführen – Verbände haben dazu aufgerufen. Was steckt hinter dem Streit? Und in welchen Fällen ist ein Eingriff überhaupt notwendig?

Es ist ein drastischer Schritt: Der Deutsche Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte (BVHNO) und die Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO) empfehlen ihren Mitgliedern, vorerst keine Mandeloperationen mehr bei Kindern vorzunehmen.

Grund sei eine »jahrelange Unterfinanzierung« und die jüngste Kürzung der Erstattungsbeträge der gesetzlichen Krankenversicherungen. Wie es so weit kommen konnte, wann die Mandeln operiert werden sollten, um welche Eingriffe es genau geht und was vor allem Eltern jetzt wissen sollten – alle wichtigen Fragen und Antworten.

Welche Funktion haben die Mandeln?

Die Mandeln, medizinisch auch Tonsillen genannt, sind Organe, die sich in Mundhöhle und Rachen befinden – als sogenannte lymphatische Organe sind sie ein Teil des Immunsystems. Neben den beiden Gaumenmandeln, die sich zwischen dem vorderen und hinteren Gaumenbogen befinden, gibt es noch die ebenfalls paarigen Tubenmandeln, eine Rachenmandel und eine Zungenmandel. Gemeinsam bilden sie den lymphatischen Rachenring und dienen der Erkennung und Abwehr von Krankheitserregern, die über Mund oder Nase in den Körper eindringen.

Welche Erkrankungen können an den Mandeln auftreten?

Am häufigsten ist eine Entzündung der Gaumenmandeln, die auch als Tonsillitis bezeichnet wird. Eine Tonsillitis wird in der Regel durch Viren und seltener durch Bakterien wie Streptokokken verursacht. Sie kann unter anderem zu Schwellungen, starken Halsschmerzen, Schluckbeschwerden und Fieber führen.

Meist sind Kinder und Jugendliche von Mandelentzündungen betroffen. Die Symptome können mit Schmerzmitteln, Rachenspülungen, Sprays und Lutschtabletten behandelt werden und klingen im Normalfall nach ein bis zwei Wochen wieder ab. Wenn bestimmte Bakterien für die Entzündung verantwortlich sind, kann auch ein Antibiotikum verordnet werden.

Als zweite wichtige Erkrankung gelten sogenannte adenoide Vegetationen, die fälschlicherweise auch als Polypen bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um Vergrößerungen der Rachenmandel und des umliegenden Gewebes. Von einer Vergrößerung der Rachenmandel sind ebenfalls meist Kinder betroffen – so wird unter anderem die Nasenatmung behindert, was zu vermehrten Infekten der Atemwege führen kann.

In manchen Fällen kann eine vergrößerte Rachenmandel auch die Verbindung zwischen dem Hohlraum des Mittelohrs und dem Nasenrachenraum blockieren. Diese sorgt normalerweise für einen Druckausgleich mit dem Luftdruck der Umgebung. Wenn dieser Prozess nicht richtig funktioniert, kann das unter anderem zu Mittelohrentzündungen, Schwerhörigkeit und einer damit verbundenen Verzögerung der Sprachentwicklung führen.

Wann ist ein operativer Eingriff notwendig?

Eine chirurgische Entfernung der Gaumenmandeln (Tonsillektomie) kommt vor allem dann infrage, wenn sich die Mandeln innerhalb eines Jahres mehrfach eitrig entzünden und mit Antibiotika behandelt werden mussten. Bei dem Eingriff, der meist stationär durchgeführt wird, werden die Gaumenmandeln in der Regel unter Narkose vollständig entfernt.

Eine Alternative zur Tonsillektomie ist die Tonsillotomie, bei der nur ein Teil der Gaumenmandeln entfernt wird – vor allem dann, wenn eine Vergrößerung der Mandeln mit etwa Atem- oder Schluckbeschwerden im Vordergrund steht. Die Tonsillotomie kann ambulant vorgenommen werden und ist mit einem geringeren Risiko für Komplikationen verbunden. Allerdings kann sich in manchen Fällen das restliche Gewebe entzünden und eine vollständige Entfernung notwendig machen.

Auch eine vergrößerte Rachenmandel kann chirurgisch behandelt werden. Dabei wird sie ebenfalls unter Narkose, aber in der Regel ambulant entfernt. Gegebenenfalls wird zusätzlich ein sogenanntes Paukenröhrchen in das Trommelfell eingesetzt, um den Druckausgleich zu erleichtern. Das Verfahren wird Adenotomie genannt und dann angewandt, wenn die vergrößerte Rachenmandel zu vermehrten Infekten, Atemproblemen oder Schwierigkeiten beim Hören führt.

Welche Risiken bergen Mandel-OPs?

Bei der Tonsillektomie, also der vollständigen Entfernung der Gaumenmandeln, treten bei bis zu sechs von hundert Patienten Nachblutungen auf, die in manchen Fällen erneut in der Klinik behandelt werden müssen. Lebensbedrohliche Nachblutungen sind jedoch sehr selten. Zudem gelten die Wundschmerzen, die nach der Operation auftreten, als sehr intensiv und können in wenigen Fällen mehrere Wochen anhalten.

Bei der Tonsillotomie, also der teilweisen Entfernung der Gaumenmandeln, können ebenfalls Nachblutungen auftreten – das Risiko ist allerdings geringer. Auch die Schmerzen nach der Operation sind in der Regel weniger intensiv. Die Entfernung der Rachenmandel gilt als sehr risikoarmes Verfahren – neben den allgemeinen Operationsrisiken können allerdings auch hier in seltenen Fällen Nachblutungen auftreten.

Wird die Immunabwehr durch Mandeloperationen geschwächt?

Zu dieser Frage gibt es verschiedene Ansichten. Das ist einer der Gründe, warum vor einem eventuellen Eingriff Vor- und Nachteile individuell und sorgfältig besprochen werden sollten. Allgemein gehen einige Expertinnen und Experten davon aus, dass die Abwehr gegen Krankheitserreger etwa nach einer Adenotomie nicht maßgeblich verschlechtert wird, weil die übrigen Bestandteile des lymphatischen Rachenrings die Funktion von Gaumen- oder Rachenmandeln übernehmen.

Eine Studie aus dem Jahr 2018  findet jedoch durchaus Hinweise auf negative Effekte: Forschende untersuchten die Gesundheitsdaten von fast 1,2 Millionen Menschen aus Dänemark, die zwischen 1979 und 1999 geboren wurden. Die Kinder, denen die Gaumenmandeln entfernt wurden, hatten bis zum 30. Lebensjahr ein fast dreimal so hohes Risiko für Erkrankungen der oberen Atemwege im Vergleich zu den Nichtoperierten. Die Entfernung der Rachenmandel war mit einem etwa verdoppelten Risiko für die Krankheiten verbunden.

Auf der anderen Seite erfüllten die Eingriffe auch ihren Zweck: Die Rate der Mandelentzündungen sank deutlich bei den Operierten und die Entfernung der Rachenmandel reduzierte Schlafprobleme. Obwohl die Forscher auf eine Fülle von Daten zurückgreifen konnten, bleiben Fragen offen. Denn letztendlich ist nicht sicher zu klären, ob die Operationen für das spätere erhöhte Krankheitsrisiko verantwortlich sind oder ob es an anderen Faktoren liegt, die in der Studie nicht erfasst wurden.

In einem Begleitartikel wird die Beweislage daher als dürftig beschrieben. Grundsätzlich gibt es auch unter Ärztinnen und Ärzten eine Diskussion darüber , welche Verfahren bei welchen Beschwerden am besten wirksam sind und wann überhaupt ein Eingriff erfolgen sollte. Die aktuelle Leitlinie zur Behandlung der Tonsillitis wird laut Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften derzeit überarbeitet .

Warum rufen Berufsverbände dazu auf, keine OPs mehr durchzuführen?

Laut dem Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte (BVHNO) und der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO) sollen vorerst keine neuen Termine  für ambulante Mandeloperationen bei Kindern vergeben werden.

Grund ist die schlechte Bezahlung. Durch die jahrelange Unterfinanzierung des ambulanten Operierens sei es laut Vertretern der Fachgesellschaften im gesamten Bundesgebiet zu einem eklatanten Versorgungsnotstand mit monatelangen Wartezeiten für dringend benötigte Operationen bei kleinen Kindern gekommen. Die jüngste Kürzung der Erstattungsbeträge zum Jahresbeginn hat die Situation nun eskalieren lassen.

Mit dem Aussetzen der OPs wollen die Ärztinnen und Ärzte auf die katastrophale Lage aufmerksam machen und »die Verantwortlichen zum Handeln zu bewegen«. Konkret geht es um Adenotomien und Tonsillotomien, für die es laut den Medizinern derzeit Wartezeiten von einem halben Jahr und länger gebe. Der Aufruf soll erst zurückgenommen werden, wenn es eine »gesicherte Zusage für eine deutliche Anhebung der Bezahlung« gebe.

Vorangegangen war eine Neuordnung der Honorare durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung  (KBV). Der Dachverband, der für alle Finanzfragen bei der Versorgung von Kassenpatienten zuständig ist, hatte im Dezember festgelegt, dass für bestimmte Eingriffe nur noch rund 107 statt vorher 111 Euro fließen. Gleichzeitig wurden andere OPs aufgewertet. Insgesamt steige das Honorarvolumen beim ambulanten Operieren im HNO-Bereich um 2,3 Prozent, rechnet die KBV in einem Brief an den HNO-Berufsverband vor.

Was können Eltern tun, die nun keinen OP-Termin für ihre Kinder bekommen?

Laut einer Umfrage des Berufsverbands der HNO-Ärzte beteiligen sich 85 Prozent der Operateure an der Protestmaßnahme . Zeitnahe Termine für eine Adenotomie oder Tonsillotomie zu finden, könnte also noch schwieriger werden als ohnehin schon. Eltern bleibt wohl vorerst nichts anderes übrig, als längere Wartezeiten in Kauf zu nehmen. Mandel-OPs lassen sich in den meisten Fällen ohne gravierende Folgen eine Zeit lang aufschieben.

Ein schwacher Trost für die Folgen eines Konflikts, denen Eltern und Kinder nun ausgeliefert sind.

jae/dpa
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