Magersucht bei Jugendlichen Was Eltern tun können, wenn ihr Kind immer dünner wird

Die Zahl der magersüchtigen Kinder und Jugendlichen ist während der Pandemie stark gestiegen – besonders bei den unter 14-Jährigen. Welche Warnsignale sollten Eltern kennen? Und wie können sie helfen?
Bei Magersüchtigen dreht sich alles um das Gewicht

Bei Magersüchtigen dreht sich alles um das Gewicht

Foto: Tero Vesalainen / iStockphoto / Getty Images

Eine halbe Brotscheibe muss zum Abendessen reichen. Doch wie erklärt man das den Eltern, die besorgt zuschauen? Und was kommt auf die halbe Scheibe drauf? Bei Jugendlichen, die eine Essstörung entwickelt haben, dreht sich beinahe alles um Essen und Gewicht.

Dabei steckt dahinter nicht immer der Wunsch, schlank zu sein. Magersucht ist eine psychische Krankheit, deren Ursachen vielfältig sein können. Eltern fühlen sich häufig überfordert und hilflos.

Mit der Coronapandemie ist die Zahl der Magersüchtigen unter den jungen Menschen noch einmal gestiegen. »Wir sehen eine deutliche Zunahme. Wir haben etwa doppelt so viele Patientinnen mit Magersucht wie vor der Coronapandemie auf den Stationen«, sagt Stephan Bender vom Universitätsklinikum Köln. Er ist dort Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters.

Auch der im September 2021 veröffentlichte Report der Krankenkasse DAK-Gesundheit  zeigte für 2020, das erste Pandemiejahr, eine Zunahme bei starkem Untergewicht sowie Magersucht und Bulimie im Vergleich zu 2019. Untersucht worden waren anonymisierte Krankenhausdaten von knapp 800.000 Kindern und Jugendlichen im Alter bis 17 Jahre, die bei dieser Krankenkasse versichert sind. Auch eine deutliche Zunahme von Adipositas wurde in dem Bericht verzeichnet.

Nach wie vor erkranken vor allem Mädchen und junge Frauen an Magersucht. Darunter sind nicht nur Patientinnen mit Erstdiagnosen, sondern auch Betroffene, die in der Coronazeit einen Rückfall hatten.

»Uns besorgt auch, dass es bei den Kindern, also der Gruppe der unter 14-Jährigen, eine besonders deutliche Zunahme der Fälle gibt«, sagt Beate Herpertz-Dahlmann, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum der RWTH Aachen. Die U14-Altersgruppe sei bislang relativ selten von Magersucht betroffen gewesen, sagt Herpertz-Dahlmann. Das scheine sich durch die Pandemie zu wandeln.

Homeschooling und Einsamkeit ein großes Thema

Warum es während der Pandemie zu einem Anstieg der Essstörungen gekommen ist, ist wissenschaftlich noch nicht geklärt. Da fehle es noch an Untersuchungen, sagt Herpertz-Dahlmann. Aus den Gesprächen mit ihren Patientinnen und Patienten weiß sie jedoch: Die weggebrochenen Strukturen des Alltags – Homeschooling statt Präsenzunterricht, allein im Zimmer statt draußen mit Freunden – sind ein großes Thema.

»Wir wissen, dass Menschen, die eine Magersucht entwickeln, gern eine feste Struktur haben«, sagt Herpertz-Dahlmann, die auch Vertreterin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie ist. Fällt diese weg, seien Betroffene eifrig dabei, sich einen neuen Rahmen für ihren Alltag zu schaffen. Problematisch werde es, wenn auf einmal mehrere Sporteinheiten oder ein akribisch ausgearbeiteter Ernährungsplan den Tag strukturieren.

Dazu kommt: Bei vielen Jugendlichen ist mit der Pandemie die Bildschirmzeit deutlich gestiegen, und damit auch die Zeit in den sozialen Medien. »Wenn man dort feststellt: ›Alle sind dünner als ich‹, kann auch das zu dem Plan führen, besonders gesund zu essen oder besonders harte Workouts zu machen«, sagt Herpertz-Dahlmann. Dieses Ziel könne ebenfalls in eine Magersucht münden.

Denn auch Schönheitsideale können eine Rolle spielen. Ob in den sozialen Medien oder auf dem Schulhof: Wer immer wieder beobachtet, dass schlanke Körper bewundert werden und über dicke Körper gelästert wird, verinnerlicht das. So berichtet sie auch von Patientinnen, die im ersten Lockdown an Gewicht zugenommen hatten und sich danach selbst eine strenge Diät verordnet hätten.

Entwickelt ein Kind oder eine Jugendliche eine Essstörung, steckt dahinter nicht nur eine Ursache, sondern ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren. So kann es zum Beispiel eine genetische Veranlagung geben, die es wahrscheinlicher macht, dass man im Laufe des Lebens an einer Magersucht erkrankt. Wenn ein Elternteil an einer Essstörung erkrankt ist, steigt das Risiko ebenfalls.

Kontrollverlust in der Pandemie als möglicher Trigger

Doch auch der eigene Charakter und die Erziehung können eine gewisse Rolle spielen: »Betroffene sind oft besonders diszipliniert und perfektionistisch«, sagt der Kölner Klinikdirektor Stephan Bender. »Oft beziehen sie ihren Selbstwert durch gute Leistungen in der Schule und weniger über ihre sozialen Kontakte.«

Weiterhin ist Kontrolle bei Magersüchtigen ein großes Thema: Das eigene Gewicht komplett in der Hand zu haben, kann den Betroffenen ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Das kann sich noch verstärken, wenn sich andere Bereiche des Lebens der eigenen Kontrolle entziehen – zum Beispiel während einer Pandemie.

Welche Warnsignale gibt es?

Verliert das Kind rasch an Gewicht, sollten Eltern aufmerksam werden. Um die Lage besser einschätzen zu können, helfen spezielle Body-Mass-Index-Rechner für Kinder und Jugendliche im Internet, die ermitteln, ob das Verhältnis von Körpergröße und -gewicht im Normalbereich ist (hier können Sie Ihren Body-Mass-Index berechnen). Bemerken Eltern, dass bei ihren jugendlichen Töchtern die Regelblutung ausbleibt, kann das ein Zeichen dafür sein, dass der Körper unterversorgt ist.

Auch Sätze, die den eigenen Körper negativ bewerten, wie etwa »Ich sehe fürchterlich aus mit meinen dicken Beinen«, sollten Eltern ernst nehmen. »Auch Konflikte ums Essen sind ein Zeichen, dass da etwas schiefläuft«, sagt Stephan Bender. »Und natürlich, wenn sich die Interessen des Kindes einengen, wenn es Hobbys und Freundschaften nicht mehr pflegt, sondern sich alles ums Essen dreht.«

Generell gilt: Ändert sich das (Ess-)Verhalten des Kindes grundlegend, sollten Eltern das im Blick behalten.

Und dann?

Wo finden Eltern und Kinder Hilfe?

Dass sie Hilfe brauchen, davon wollen viele Magersüchtige anfangs nichts wissen. Anders als bei anderen psychischen Erkrankungen setzt der Leidensdruck bei der Magersucht erst spät ein, erklärt Bender. Denn in der ersten Zeit fühlen sich Betroffene durch ihre vermeintlichen Diäterfolge stark und mächtig.

Für Eltern ist das meist nicht nachvollziehbar. Das liegt daran, dass mit der Magersucht eine Körperschemastörung einhergeht: Betroffene haben einen verzerrten Blick auf ihren eigenen Körper und empfinden sich trotz Untergewicht als zu dick.

Starkes Untergewicht kann jedoch mit der Zeit lebensbedrohlich werden. »Eltern sollten das Thema auf keinen Fall totschweigen. Die Chance, die Erkrankung zu überwinden, ist größer, wenn sie möglichst früh behandelt wird«, sagt Beate Herpertz-Dahlmann.

Ratsam sei es, ein offenes Gespräch zu suchen, das mit Worten wie etwa »Ich habe das Gefühl, du gefällst dir in letzter Zeit gar nicht mehr« beginnt. »Oft sind die Jugendlichen aber auch froh, wenn jemand darauf kommt und das Thema Magersucht anspricht«, sagt Herpertz-Dahlmann.

Weitere Hilfsangebote

Ob die Magersucht stationär, ambulant oder tagesklinisch behandelt wird, hängt davon ab, wie schwer die Erkrankung ist. Der erste Weg führt üblicherweise zum Kinderarzt oder zur Kinderärztin. Sie können die Familie an Psychotherapeutinnen und Psychiater überweisen, die auf Kinder und Jugendliche spezialisiert sind.

»Die Wartezeiten können derzeit erheblich sein«, sagt Stephan Bender. In den Wochen oder Monaten, bis ein Therapieplatz gefunden ist, sei es umso wichtiger, die Verfassung des Kindes im Blick zu behalten.

Immerhin: Viele Kliniken reagieren auf die Zunahme von Magersuchtpatientinnen und -patienten. Sie bauen etwa ihre Bettenkapazitäten aus oder sie schaffen gemeinsam mit Krankenkassen oder der Jugendhilfe Angebote, die Betroffene beim Überbrücken der Wartezeit unterstützen.

kry/dpa
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