Schätzung Jedes Jahr 45.000 Suizide weltweit wegen Arbeitslosigkeit

Ein als Clown verkleideter Bettler in Madrid: Arbeitslosigkeit führt häufig zu schweren seelischen Problemen
Foto: Fabian Stratenschulte/ dpaHamburg - Ausgrenzung, soziales Stigma, Minderwertigkeitsgefühle: Arbeitslosigkeit bringt die Betroffenen nicht nur in finanzielle Nöte, sondern häufig auch in seelische. Je länger die Arbeitslosigkeit andauert und je geringer die Chancen auf einen Wiedereinstieg sind, desto größer ist die psychische Belastung. Depressionen und andere Leiden sind die Folge. Mitunter scheint die Situation so ausweglos, dass Betroffene sich sogar das Leben nehmen.
Doch wie häufig geschieht das? Einer aktuellen Studie im Medizinjournal "Lancet Psychiatry" zufolge könnte Arbeitslosigkeit die Ursache für jährlich etwa 45.000 Suizide in 63 Ländern weltweit sein.
Schweizer Forscher um Carlos Nordt und Wolfram Kawohl von der Universität Zürich (UZH) analysierten öffentliche Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie des Internationalen Währungsfonds (IWF) aus den Jahren 2000 bis 2011. Somit umfasste der Zeitraum ökonomisch gesehen sowohl stabile als auch instabile Phasen wie die Finanzkrise 2008. Zudem unterteilten die Wissenschaftler die Daten in vier verschiedene Weltregionen und berechneten für insgesamt 63 Länder die Suizidraten in Abhängigkeit von den Arbeitslosenquoten, dem Geschlecht und verschiedenen Altersgruppen.
Das Ergebnis: In allen vier Weltregionen hatte Arbeitslosigkeit einen ähnlichen Effekt auf die Suizidraten. Demnach erhöhte Arbeitslosigkeit zwischen 2000 und 2011 das Risiko für Suizid um 20 bis 30 Prozent. Von den insgesamt durchschnittlich 233.000 Suiziden, die innerhalb dieses Zeitraums pro Jahr begangen wurden, gingen rund ein Fünftel (45.000 Suizide) auf das Fehlen eines Jobs zurück, schätzen Nordt und Kollegen. Weltweit nehmen sich insgesamt rund eine Million Menschen jährlich das Leben.
Folgen der Finanzkrise 2008
Den Berechnungen der Schweizer zufolge standen 2007 insgesamt 41.148 Suizide im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit, 2009 lag diese Zahl demnach bei 46.131 Selbsttötungen. Den Anstieg führen die Wissenschaftler auf die Folgen der Finanzkrise 2008 zurück. Bereits frühere Analysen internationaler Daten belegen einen statistischen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Suizidraten und dem Ausmaß der Arbeitslosigkeit in den jeweiligen Ländern. Auch im Fall von Griechenland sehen Forscher einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Zahl der Selbsttötungen und der derzeit anhaltenden Wirtschaftskrise, wie kürzlich eine Untersuchung zeigte.
Im Gegensatz zu früheren Studien ergab die Analyse der Schweizer Forscher jedoch, dass Männer und Frauen in allen Altersgruppen gleichermaßen von den Effekten der Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Effekte von Arbeitslosigkeit nicht in allen Ländern gleich
"Unsere Ergebnisse weisen zudem darauf hin, dass nicht alle Jobverluste zwingend die gleichen Auswirkung haben", sagt Carlos Nordt laut einer Pressemitteilung. In Ländern, in denen Arbeitslosigkeit eher ungewöhnlich ist, scheint der Effekt auf die Suizidrate demzufolge stärker zu sein. "Es ist möglich, dass ein unerwarteter Anstieg der Arbeitslosenquote größere Ängste und Unsicherheiten schüren könnte als in Ländern mit generell höheren Arbeitslosenquoten."
Die Forscher plädieren deshalb dafür, grundsätzlich Vorsorgestrategien für Arbeitslose zu entwickeln - und nicht nur zu Zeiten wirtschaftlicher Krisen. In einem begleitenden Kommentar zur Studie rufen Roger Webb und Navneet Kapur von der University of Manchester in Großbritannien zudem zu mehr Forschung auf und mahnen: Jene Fälle von Selbsttötung, die sich auf globale wirtschaftliche Krisen zurückführen lassen, seien wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Nicht nur die schlimmste Folge (der Suizid) gelte es zu berücksichtigen, sondern vielmehr eine größere Bandbreite seelischer und sozialer Nöte.
Sinkende Löhne, Kurzarbeit, unsichere Arbeitsplätze, Insolvenz, Schulden und andere Folgen von Finanzkrisen könnten selbst Arbeitende schwer belasten und zu psychischen Problemen führen. Ob Stress, Ängste, Alkoholprobleme, Selbstverletzungen oder Zusammenbruch familiärer Beziehungen - die Autoren schreiben: "Wir brauchen ein größeres Verständnis darüber, wie wirtschaftliche Nöte sich psychosozial manifestieren."