Asperger-Syndrom Blind für die Emotionen anderer Menschen

Der Amokläufer von Newtown soll an einer Form von Autismus gelitten haben - vom Asperger-Syndrom ist die Rede. Darauf weisen einige Aussagen von ehemaligen Mitschülern Adam Lanzas hin. Sie beschreiben ihn als emotionslos und hochintelligent zugleich. Was steckt dahinter?
Von Cinthia Briseño
Kerzen für die Opfer und Angehörigen: War Adam Lanza Asperger-Autist?

Kerzen für die Opfer und Angehörigen: War Adam Lanza Asperger-Autist?

Foto: David Goldman/ AP

Wer war Adam Lanza? Und warum hat er diese unfassbar grausame Tat begangen? Warum konnte ein 20-Jähriger, offenbar kaltblütig und emotionslos, 27 Menschen töten, darunter seine Mutter und 20 kleine, wehrlose Kinder? Das sind Fragen, die in diesen Stunden nach dem Amoklauf von Newtown so viele Menschen umtreiben.

Auf der quälenden Suche nach Antworten erhält man einzelne Puzzleteilchen, die sich nur langsam zu einem Bild von Adam Lanza zusammenfügen - dieses Bild bleibt bislang aber unscharf. Eines dieser Puzzleteile ist das über den psychischen Zustand des Täters. Dabei fällt immer wieder ein medizinischer Begriff: Asperger-Syndrom.

Adam Lanza, das berichten mehrere Medien, soll an dieser Form von Autismus gelitten haben. Sein älterer Bruder Ryan Lanza soll demnach gegenüber Behörden zu Protokoll gegeben haben, dass Adam eine Persönlichkeitsstörung hatte, ohne diese aber näher zu benennen.

Einige Zeugenaussagen zu Lanzas Verhalten scheinen in das Bild zu passen, das Experten von Asperger-Autisten zeichnen: Betroffene haben große Schwierigkeiten, soziale Kontakte aufzubauen und mit anderen Menschen selbstverständlich zu kommunizieren. So sagte etwa ein früherer Mitschüler Lanzas, dieser habe sich beim Umgang mit anderen Menschen überhaupt nicht wohl gefühlt. Kaum ein Wort habe sein Sitznachbar im Schulunterricht gesagt.

Verstand statt Bauch

Menschen mit Asperger-Syndrom erkennen zudem Emotionen anderer nur schwer. Wenn sie jemanden sehen, können sie kaum unterscheiden, ob er vor Wut schäumt oder aus Freude lacht. Witze verstehen sie nicht, Ironie oder Metaphern ebensowenig. Helmut Remschmidt, emeritierter Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uni Marburg und Asperger-Experte, erzählte vor wenigen Monaten in einem Interview die Geschichte eines seiner Patienten mit Asperger-Syndrom. Dieser habe zu ihm gesagt: "Was sie und andere Menschen mit dem Bauch machen, das muss ich mir ganz sorgfältig mit meinem Verstand zurechtlegen."

Ein weiterer Klassenkamerad Lanzas berichtet, man habe keine Emotionen in ihm erkennen können, wenn man ihn ansah. "Er war sehr still, ein bisschen unsicher", sagt eine andere Mitschülerin über ihn. Auch diese Aussagen passen in gewisser Weise. Asperger-Autisten haben Probleme, sich in andere hineinzuversetzen. Den Blickkontakt mit anderen meiden sie.

Aber genügen Aussagen wie diese, um Adam Lanza als sogenannten Aspie zu bezeichnen? Wohl kaum. So eine Diagnose zu stellen, ohne die Person wirklich erlebt zu haben, sei nicht seriös, sagt Remschmidt.

Ohnehin wird die Diagnose Asperger-Syndrom bald obsolet: Nach der überarbeiteten Version des Diagnose-Handbuches für psychische Erkrankungen DSM-5 ("Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders") - dem wohl wichtigsten Katalog für Psychiater und Psychologen, das im Mai 2013 erscheinen soll - wird es die Diagnose nicht mehr geben. Stattdessen soll das Asperger-Syndrom unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störungen zu finden sein. Am einen Ende des Spektrums steht der frühkindliche Autismus, der häufig mit einer geistigen Behinderung einhergeht, am anderen Ende des Spektrums findet sich dann das Asperger-Syndrom. Die scharfen Grenzen zwischen den Unterformen des Autismus werden somit abgeschafft.

So jedenfalls hat es die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung entschieden. Doch es ist eine umstrittene Entscheidung. Denn einige Kinder und Betroffene, so fürchten Kritiker, könnten nach den neuen Kriterien ganz aus der Diagnose Autismus herausfallen - und damit ihren Anspruch auf Fördermaßnahmen verlieren.

Sollte Adam Lanza tatsächlich an einer Form von Autismus gelitten haben, ist das noch lange keine Erklärung für seine grausamen Taten. Gleichwohl gab es bereits Amokläufer, bei denen auch Asperger-Autismus diagnostiziert worden war. Frederik B., der Vierfachmörder von Eislingen, leidet laut psychiatrischem Gutachten an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung und hat Asperger-Syndrom. Der vierfache Frauenmörder und Serienvergewaltiger Heinrich Pommerenke, der bis zu seinem Tod 2008 als einer der schlimmsten Verbrecher der Republik galt, war einem Psychiater zufolge Asperger-Autist. Ein Arzt diagnostizierte auch beim rassistischen Heckenschützen von Malmö das Asperger-Syndrom.

Was für manche im Nachhinein eine mögliche Erklärung dafür bietet, warum diese Menschen solche Taten begehen, ist in Wahrheit natürlich ein trügerischer Schluss. Es wäre fatal, von diesen Einzelfällen aus einen kausalen Zusammenhang abzuleiten. Das Gegenteil ist der Fall. Remschmidt schreibt dazu in seinem Buch "Asperger-Syndrom: Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen": "Obwohl gegenwärtig noch nicht genügend epidemiologische Studien vorliegen, vermuten die meisten Autoren, dass autistische Menschen eine niedrigere Kriminalrate hätten als nicht autistische Menschen. Sie wären eher Opfer als Täter. Zudem würden sie dazu neigen, Gesetze rigide anzuwenden und hätten Probleme mit Gesetzesüberschreitungen."

Meistens sind Jungen betroffen

Schätzungen zufolge leidet jedes 3000. Kind am Asperger-Syndrom. Meist sind es Jungen. Diagnostizieren kann man sie bereits ab dem Vorschulalter. Doch oft wird die Erkrankung erst festgestellt, wenn die Kinder älter als acht sind. Denn im Gegensatz zu Betroffenen mit frühkindlichem Autismus entwickelt sich die Sprachfähigkeit und die Intelligenz der Asperger-Kinder normal.

Es gibt aber auch Betroffene, bei denen das Syndrom erst im Erwachsenenalter festgestellt wird. Meist haben diese Menschen im Laufe ihres Lebens Taktiken entwickelt, um die Schwierigkeiten im Alltag zu kompensieren. Sie kopieren dann manchmal einfach die Verhaltensweisen anderer und trainieren sich zum Beispiel an, Sarkasmus anderer zu erkennen, oder anderen Menschen fest in die Augen zu blicken.

Woher die Asperger-Störung kommt, ist bisher unklar. Experten wie Remschmidt gehen davon aus, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen können. Ebenso gibt es Hinweise auf Schädigungen im Gehirn und biochemische Veränderungen. Im Gegensatz zum öffentlichkeitswirksamen Bild vom autistischen Kind, das Genie zugleich ist, sind Betroffene weder hochbegabt noch überdurchschnittlich kreativ. Manche entwickeln zwar Spezialbegabungen, haben beispielsweise ein besonders ausgeprägtes fotografisches Gedächtnis. Experten schätzen aber, dass es weltweit vielleicht nur hundert autistische und zugleich hochbegabte Personen gibt.

Ein ehemaliger Mitschüler von Adam Lanza, Joshua Milas, beschreibt den Täter gegenüber der Nachrichtenagentur AP so: "Wir hingen zusammen rum, er war ein gutes Kind. Er war wahrscheinlich eines der intelligentesten Kinder, das ich kenne. Wahrscheinlich war er ein Genie." Für die Angehörigen der getöteten Kinder und Lehrer muss diese Aussage wie Sarkasmus klingen.

Anmerkung der Redaktion: Einige Leser haben in diesem Text offenbar eine Gleichsetzung von Menschen mit Autismus und Mördern erkannt. Eine solche völlig abwegige Gleichsetzung ist selbstverständlich nicht gemeint. Der Text weist ausdrücklich darauf hin, dass selbst eine Störung keine Erklärung für eine grausame Tat wie in Newtown sein kann. Sollte der Artikel dennoch die Gefühle von Menschen mit Autismus verletzt haben, bitten wir um Entschuldigung. Einen Absatz, der die vermeintliche Gleichstellung einordnet, haben wir in dem Artikel eingefügt.

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